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Sieben Bis Acht Millionen Betroffene in Deutschland

Deutschland Radio
September 28, 2016

http://www.deutschlandradiokultur.de/sexueller-missbrauch-sieben-bis-acht-millionen-betroffene.1008.de.html?dram:article_id=366934

Matthias Katsch, ehemaliger Schuler des Canisius-Kollegs; vor der Jesuitenschule in Berlin. In dem Gebaude fanden viele der sexuellen Ubergriffe auf Schuler statt. (dpa / picture alliance / Stephanie Pilick)

Heute beginnt die Unabhangige Missbrauchskommission mit Opferanhorungen. Der ehemalige Canisius-Schuler Matthias Katsch warnt davor, sexuelle Gewalt gegen Minderjahrige als Erscheinung der Vergangenheit zu betrachten. Es geschehe auch "hier und heute".

Matthias Katsch, ehemaliger Schuler am Canisius-Kolleg, fordert von der Unabhangigen Missbrauchskommission die Aufdeckung gesellschaftlicher und institutioneller Strukturen, die Missbrauch begunstigen.

Man durfe nicht dabei stehen bleiben, Beispiele fur Missbrauchsgeschichten zu horen und wahrzunehmen, sondern es musse auch uber Verantwortlichkeiten auf allen Ebenen gesprochen werden, mahnt Katsch. "Im Umfeld, in der Institution und in der Gesellschaft, damit diese Taten tatsachlich in der Zukunft weniger werden".

Sexuelle Gewalt kein Einzelschicksal

Denn sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sei kein Einzelschicksal, sondern "ein gesellschaftlicher Skandal, von dem sieben, acht Millionen in diesem Land betroffen sind, die in ihrer Kindheit und Jugend als Jungen und Madchen diese Erfahrung sexueller Gewalt gemacht haben".

Auch sei Missbrauch keine Sache der Vergangenheit, sondern geschehe auch "hier und heute", so Katsch weiter. "Fur diese Kinder und Jugendlichen mussen wir etwas tun. Und das tun wir dadurch, dass wir die Opfer ernstnehmen, ihnen signalisieren, wir glauben euch, wir wollen es wirklich wissen und dann die Konsequenzen daraus ableiten." (uko)

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Sexueller Missbrauch von schutzbefohlenen Kindern, Behinderten in Heimen, Schulen, Kirchengemeinden – daruber wissen wir inzwischen mehr als in all den Jahren, als der Mantel des Schweigens uber solche Taten gedeckt wurde. Auch und gerade in kirchlichen Einrichtungen. Das katholische Berliner Canisius-Gymnasium war so ein Ort, an dem Schuler Missbrauch erleiden mussten.

Matthias Katsch war einer von ihnen, er hat aber 2010 angefangen, offentlich daruber zu sprechen, und auch dafur gekampft, am runden Tisch teilzunehmen. Er ist im Betroffenenrat der Bundesregierung aktiv und hat sich seit 2012 intensiv dafur eingesetzt, dass die Aufarbeitung weitergeht. Er ist auch Berater der unabhangigen Missbrauchskommission, die heute bundesweit und dezentral in geschutzten Raumen tagt. Und jetzt ist er am Telefon, schonen guten Morgen, Herr Katsch!

Matthias Katsch: Schonen guten Morgen!

"Canisius Kolleg, Jesuitengymnasium" ist auf der Tafel vor dem Canisius-Kolleg am 22.01.20015 in Berlin zu lesen. (dpa / picture-alliance / Stephanie Pilick)Vor einiger Zeit wurde jahrelanger Kindesmissbrauch im Berliner Canisius-Kolleg bekannt. (dpa / picture-alliance / Stephanie Pilick)

von Billerbeck: Was wurde denn bisher in Sachen Aufarbeitung erreicht?

Katsch: Wir wissen viel mehr, als wir vor zehn, 15 Jahren wussten. Sie haben erwahnt, dass wir in vielen Institutionen, Kirchen, Gemeinden, Sportvereinen, anderen Einrichtungen, aber auch in vielen … ((Telefonverbindung wird gestort))

von Billerbeck: Herr Katsch, wir mussen noch mal anrufen, wir haben eine ganz schlechte Telefonleitung. Wir versuchen es gleich noch mal, ja?

Katsch: Ja, naturlich.

von Billerbeck: Danke schon.

((Musik))

Hoffen auf die Arbeit der Kommission

Heute tagt die unabhangige Missbrauchskommission, es geht darum, zu erforschen, wo sexueller Missbrauch verubt wurde an Kindern, an Behinderten, in Heimen, Schulen und Kirchengemeinden. Eine davon war das katholische Berliner Canisius-Gymnasium, ein Ort, an dem Schuler Missbrauch erleiden mussten. Matthias Katsch, einer von ihnen, Betroffener, der sich auch sehr fur die Aufarbeitung engagiert, Herr Katsch, schonen guten Tag noch mal!

Katsch: Ja, hallo noch mal, jetzt ist es glaube ich besser.

von Billerbeck: Was leistet … Jetzt ist die Leitung besser, ja. Was leistet diese unabhangige Missbrauchskommission?

Katsch: Ich hoffe, dass sie auf drei Ebenen wirken kann. Naturlich auf der ersten Ebene ganz direkt mit den Menschen, die dort angehort werden, dass denen vermittelt wird – oftmals vielleicht zum ersten Mal –, wir, wir anderen, die Gemeinschaft, die Gesellschaft, wir glauben euch, wir nehmen das wahr, was euch widerfahren ist. Aber das alleine ware naturlich zu wenig. Wir haben in den letzten sechs, sieben Jahren sehr viele Beispiele fur Missbrauchsgeschehen gehort und wahrgenommen, aber wir mussen naturlich einen Schritt weiterkommen.

Wir mussen uber Verantwortung sprechen auf einer institutionellen Ebene, wie war die Antwort vielleicht in der Vergangenheit oder eben was ist in der Vergangenheit gemacht oder nicht gemacht worden, wenn Missbrauch im Raum stand, wie wurde geholfen oder nicht geholfen, wie wurde aufgedeckt oder nicht aufgedeckt, verdeckt. Und schlie?lich auf einer gesellschaftlichen Ebene mussen wir uns daruber unterhalten, dass sexuelle Gewalt eben kein individuelles, personliches Einzelschicksal ist, sondern, ja, ein gesellschaftlicher Skandal, von dem sieben, acht Millionen Menschen in diesem Land betroffen sind, die in ihrer Kindheit und Jugend als Jungen und Madchen diese Erfahrung sexueller Gewalt gemacht haben. Also, auf diesen drei Ebenen muss die Kommission wirken.

Es geht nicht um "Ersatzstrafverfolgung"

von Billerbeck: Sie wissen ja, wie schwer das ist, Sie haben sich ja selber als Opfer da geau?ert, haben das publik gemacht, was Ihnen widerfahren ist. Das hei?t, es geht viel weniger darum, einzelne Tater aufzuzeigen und mit dem Finger auf sie zu zeigen, sondern klarzumachen, in welchem Umfeld das passiert ist, und die Umstande auszuraumen, dass es nicht mehr passiert?

Katsch: Das ist letztlich in der Konsequenz das Ziel. Es ist jetzt keine Ersatzstrafverfolgung, wir konnen nicht nach 30, 40 Jahren jetzt versuchen, das zu heilen, was eben schiefgegangen ist in der Vergangenheit, als wir Tater viel zu leicht haben davonkommen lassen. Das wird die Kommission nicht tun mussen, tun konnen, sondern was sie muss, ist, tatsachlich diese Verantwortung herauszuarbeiten auf allen Ebenen, im Umfeld, in der Institution und in der Gesellschaft, damit diese Taten tatsachlich in der Zukunft weniger werden.

Denn das ist leider auch so: Wenn man Aufarbeitung hort, dann denkt man immer, wir reden uber etwas, was lange vergangen ist. Nein, sexuelle Gewalt geschieht auch hier und heute. Und fur diese Kinder und Jugendlichen mussen wir etwas tun, und das tun wir dadurch, dass wir die Opfer ernst nehmen, ihnen signalisieren, wir glauben euch, wir wollen es wirklich wissen, und dann die Konsequenzen daraus ableiten. Das ist das, was ich hoffe, was die Kommission leisten kann.

Missbrauch in vielen Fallen "grausliche Normalitat"

von Billerbeck: Nun gibt es ja auch Stimmen, die sagen, nach den vielen Veroffentlichungen, die es gegeben hat, wir wissen jetzt Bescheid, wir glauben, es ist alles klar, das kann nicht mehr passieren, ist jetzt nicht mal gut!

Katsch: Das hort man, das kann man auch verstehen, so eine gewisse Abwehr. Tatsache ist aber, wir wissen viel zu wenig. Wir stehen immer noch sprachlos davor, in der letzten Woche wieder ein Bericht aus einer hessischen Grundschule, wo uber Jahre, Jahrzehnte hinweg ein Lehrer Kinder missbrauchen konnte, und niemand hat etwas bemerkt, niemand hat etwas wahrgenommen, niemand hat reagiert.

Das macht sprachlos und stellt wiederum die Frage, was lauft in Institutionen schief, dass Tater so vorgehen konnen, dass Opfer so wenig gesehen werden? In welchem Umfeld geschieht sexuelle Gewalt, dass es uns nicht auffallt, dass wir es nicht bemerken? Also, ich glaube, wir haben nicht zu viel uber das Thema gesprochen, sondern wir sind eigentlich erst dabei, eine gewisse Normalitat im Umfang mit dem Thema zu entwickeln.

Das Skandalhafte, das stand 2010 sehr stark im Vordergrund, das habe ich also auch erlebt in meinen Kontakten mit Menschen, wenn ich daruber gesprochen habe. Aber es ist leider eine grausliche Normalitat in vielen Fallen. Und das bedeutet, wir mussen mehr daruber reden, nicht weniger.

von Billerbeck: Das sagt Matthias Katsch, selbst Betroffener sexuellen Missbrauchs. Heute tagt die unabhangige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Ich danke Ihnen!

Katsch: Ich danke Ihnen, auf Wiederhoren!

von Billerbeck: Auf Wiederhoren!

 

 

 

 

 




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