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"Plotzlich Schreikrampfe. Der Mund Schief"

By Silke Hoock
Zeit
November 10, 2016

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Das Franz Sales Haus in Essen © Wolfram Kastl/dpa

Das katholische Franz-Sales-Haus in Essen ist schon im Jahr 2010 fur seine Grausamkeit bekannt geworden. Ordensschwestern hatten die jungen Heimbewohner mit und ohne Behinderungen bis in die 1970er Jahre brutal gequalt. Nun kam heraus, dass es neben den folterartigen Zuchtigungen mit Stromkabeln oder hei?en Bugeleisen und neben sexuellem Missbrauch auch regelma?ig "Betonspritzen" oder "Kotzspritzen" gab, wie die Heimkinder sie nannten. Also Medikamente, mit denen sie kunstlich ruhig gestellt wurden oder die einen permanenten Brechreiz auslosten.

Doch nicht nur in Essen, bundesweit sollen in Deutschland Tausende Heimkinder zwischen 1950 und 1970 Opfer von Medikamententests geworden sein. Impfstoffe, Psychopharmaka und Libido hemmende Praparate habe man ihnen verabreicht. Zu diesem Ergebnis kommt die Krefelder Pharmazeutin Sylvia Wagner in ihrer Doktorarbeit. Wagner hatte an der Universitat Dusseldorf 50 Studien von Pharmaunternehmen sowie historisch, wissenschaftliche Fachzeitschriften ausgewertet. Die meisten Tests seien ohne Einwilligung der Eltern erfolgt, sagt die Forscherin. Allein in Nordrhein-Westfalen (NRW) sollen funf Heime und jugendpsychiatrische Einrichtungen betroffen gewesen sein. Zum Teil hatten staatliche Behorden von den Tests gewusst und ihnen zugestimmt. Die NRW-Landesregierung kundigte an, die Studie sorgfaltig zu prufen und aufzuarbeiten.

Heute gilt, dass in Medikamentenstudien alle Probanden uber mogliche Risiken aufgeklart werden mussen. Sie mussen geschaftsfahig sein und die Bedeutung der Studie erfassen konnen. Psychisch kranke Menschen oder Minderjahrige durfen deshalb meist nicht teilnehmen.

Die Aufzeichnungen uber die dort vorgenommenen Medikamententests hat Sylvia Wagner im Darmstadter Archiv des Pharmakonzerns Merck gefunden. Im Franz-Sales-Haus wurde demnach insgesamt 28 Kindern und Jugendlichen zwischen 5 und 13 Jahren das Neurolepticum Decentan verabreicht. Die unmittelbaren Auswirkungen auf die Kinder hat der damals behandelnde Arzt, Dr. Waldemar Strehl, dokumentiert.

"Es war erschreckend zu lesen. Hier hat jemand ohne Unrechtsbewusstsein gehandelt", sagt Wagner. Der Essener Mediziner vermerkte etwa am 28. Januar 1958 in seinen Notizen in der Spalte "Wirkung und Vertraglichkeit": "Starrkrampf im Bereich der Ruckenmuskulatur. Blickkrampf nach links oben." Oder: "Plotzlich Schreikrampfe. Die linke Seite war wie gelahmt, der Mund schief." Und: "Die Zunge war wie gelahmt. Steht apathisch herum. Das Gesicht ist mimikarm vollig verandert. Taumelt".

Viel zu hohe Dosierung

In ihrem Forschungsbericht schreibt Sylvia Wagner dazu: "Bei den beschriebenen Erscheinungen handelt es sich offenbar um Nebenwirkungen, die bei zu hoher Dosierung der Neuroleptika auftraten." Viele Arzneien wurden damals erst nach der Markteinfuhrung auf ihre Unbedenklichkeit klinisch getestet. Erst im Jahr 1978, nach dem Contergan-Skandal, anderte sich diese Praxis mit der Neufassung des Arzneimittelgesetzes. Bei ihren weiteren Recherchen stie? Sylvia Wagner, die davon ausgeht, dass die Medikamente sowohl zu Testzwecken als auch zum Ruhigstellen der Kinder eingesetzt wurden, au?erdem auf einen Besuchsbericht von Merck-Vertretern beim Heimarzt Waldemar Strehl, in dem steht: "Wir verschwiegen nicht, dass wir die Dosierung fur viel zu hoch hielten." Doch Strehl, so der Merck-Bericht, sei offenbar einiges "an medikamentosen Nebenwirkungen bei seinen Zoglingen gewohnt".

Der Arzneimittelexperten Gerd Glaeske, Universitat Bremen, sagt: "Hier hat ein moglicherweise faschistisch gepragter Arzt von sadistischem Gedankengut getrieben, Kinder als Menschenmaterial fur seine Experimente in einem geschlossenen Raum benutzt. Er wollte wissen, wie Kinder auf die viel zu hohe Dosierung reagieren. Damit hat er aus schutzbedurftigen Kindern Zombies gemacht." Wahrend die Dosierungsempfehlung des Neuroleptikums 6 Milligramm fur Erwachsene betragen habe, "hat Strehl den Kindern 48 Milligramm gegeben". Glaeskes Kritik: "Merck hatte dem Arzt das Medikament wegnehmen mussen." Statt den Kindern zu helfen, haben die Merck-Mitarbeiter nur aufgezeichnet, was sie beobachtet haben.

Waldemar Strehl, geboren 1916, promovierte 1940 bei Friedrich Erhard Haag in Gie?en, Haag war wahrend der NS-Zeit unter anderem au?erordentlicher Professor fur Rassenhygiene und -pflege an der Medizinischen Akademie Dusseldorf. Nach der Entnazifizierung wurde Strehl Anstaltsarzt im Franz-Sales-Haus.

"Wir bekamen von der Schwester Pillen, die wie Smarties aussahen"

Decentan war ein stark wirksames Beruhigungsmittel, das bei schwerwiegenden Krankheiten wie Psychosen oder Schizophrenien eingesetzt wurde. Seit zwei Jahren ist es nicht mehr auf dem Markt. Psychiatrien verwendeten es haufig, um Patienten ruhigzustellen. Decentan hatte gefahrliche Nebenwirkungen: Depression, sexuelle Storungen, ein Dauerzittern. "Bei Kindern, deren Gehirne sich noch entwickeln, muss man vermuten, dass sie dauerhafte Schaden davongetragen haben", erlautert Pharma-Experte Glaeske.

Und wie haben es die Betroffenen erlebt? "Wir bekamen von der Schwester Pillen, die wie Smarties aussahen", erinnert sich ein Mann, der in den 50er Jahren im Franz-Sales-Haus lebte und unerkannt bleiben mochte. Au?erdem wurden ihm in dieser Zeit auch Spritzen verabreicht. Warum, habe ihm niemand gesagt. Er glaubt aber, dass die Medikamente Folgen hatten: "Plotzlich habe ich wieder ins Bett gemacht", sagt er. Er erinnert sich auch an eine gro?e Mudigkeit. Der Mann ist heute 70 Jahren alt. Ob sein Diabetes eine Langzeitfolge der Medikamentengabe ist, wei? er nicht.

Anton Turinsky, der zusammen mit seinem Zwillingsbruder als Funfjahriger ins Essener Heim kam, berichtete im ARD-Polit-Magazin Fakt von der taglichen Medikamentengabe: "Die Nonne kam mit einer Schachtel Tabletten. Mund auf – der eine mehr, der andere weniger. Meistens waren das Kinder, die nicht ruhig sitzen konnten."

Ein weiteres Opfer war Willi Kappes. Er lebte insgesamt 38 Jahre lang in einer anderen von Sylvia Wagner erwahnten Einrichtung, in der Jugendpsychiatrie Viersen-Suchteln. Im vergangenen Jahr starb der Mann, dessen Leidensweg im Dokumentarfilm Hermines Liste (WDR/3sat/2005) festgehalten wurde. 1958 war er mit drei Jahren von einem Kinderheim direkt in die Psychiatrie nach Viersen-Suchteln eingewiesen worden. Grund: Verhaltensauffalligkeit. Kappes wurde gezwungen, taglich Psychopharmaka einzunehmen. Weil er immer mude war, Halluzinationen, Schrei- und Muskelkrampfe hatte, besuchte er nie eine Schule. Er verlernte zeitweise sogar das Sprechen. Als er vollig traumatisiert nach der Intervention seiner Cousine entlassen wurde, sagte der behandelnde Psychiater: "Der ist halt hier, warum, wissen wir nicht."

Das Franz-Sales-Haus lie? uber seine Sprecherin Barbara Steiner mitteilen, man nehme die Vorwurfe sehr ernst und werde die Unterlagen von Merck grundlich und mit Hilfe von externen Experten untersuchen. Im eigenen Archiv fanden sich allerdings keinerlei Hinweise auf Medikamententests. Der Pharmakonzern Merck will offensichtlich keine Verantwortung ubernehmen. Merck sei nicht das einzige Pharmaunternehmen gewesen, dessen Medikamente auf die von Wagner beschriebene Weise eingesetzt worden seien, erklarte Merck-Sprecher Gangolf Schrimpf auf Anfrage von ZEIT ONLINE. "Die derzeit diskutierten Tests liegen mehr als 50 Jahre zuruck und die Gesetzeslage war damals eine andere. Nach unserer Kenntnis hat Merck nicht rechtswidrig gehandelt. Daher stellt sich die Frage nach Wiedergutmachung nicht."

 

 

 

 

 




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