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Die Legende vom furchtlosen Hirten und dem Fuchs, der die Gans nicht gestohlen, sondern gebracht hat

By Von Robert Werner
Regensburg Digital
January 3, 2017

https://goo.gl/cXNq6E

Hochglanz-Magazin des Bistums Regensburg zum Abschied von Gerhard Ludwig Müller nach Rom.

Blieb bis zum Schluss bei seiner harten Haltung: GLM.

Viele setzten große Hoffnungen in Bischof Voderholzer.

Filmemacherin Mona Botros

Rechtsanwalt Ulrich Weber bei seinem Zwischenbericht über die Aussagen Betroffener: „Ich habe keinen Grund, an den Schilderungen der Betroffenen zu zweifeln.

Überrascht von den Aussagen von Kardinal Müller: Peter Schmitt.

[On the occasion of a report on the treatment of the abuse scandal of the Domspatzen, Cardinal Gerhard Ludwig Müller (GLM) reprimands the Bavarian radio for "post-factual allegations."]

Anlässlich eines Berichts über die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals der Domspatzen schmäht Kardinal Gerhard Ludwig Müller (GLM) den Bayerischen Rundfunk der „postfaktischen Behauptungen“. Er bemüht dafür eine auf der Bistumshomepage veröffentlichte „Chronologie“, die sich bei Lichte besehen als kontrafaktische Eigenpropaganda entpuppt. GLM sieht sich als Seelsorger und Vater der Domspatzen-Aufklärung. Was ist in Regensburg geschehen?

Schon Jahre vor den Auseinandersetzungen mit den Übergriffen in den Einrichtungen der Domspatzen standen der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller und die Personalpolitik seines Bistums in Bezug auf sexuellen Missbrauch in der öffentlichen Kritik. In der Berichterstattung um den jahrelang zerstörend wirkenden und einschlägig vorbestraften Pfarrer Peter K. wurde auch nach der Verantwortung Diözesanbischofs gefragt. Eine solche lehnte Müller im Jahre 2007 strikt ab: „Die Verantwortung für die Tat trägt der Täter“. Für eine verfehlte Personalpolitik übernahm ebenso niemand die Verantwortung.

Beispiellose Abwehrschlacht

Mit einer beispiellosen Abwehrschlacht reagierte Bischof Gerhard L. Müller dann Anfang März 2010 auf das Bekanntwerden von sexuellen Übergriffen in den Einrichtungen der Domspatzen. Seine Strategie: All dies seien entweder längst bekannte alte Einzelfälle oder aus niederen Beweggründen von Feinden der Katholischen Kirche und Papst Benedikts vorgetragene „Vorwürfe“. Den Medien unterstellte er generell eine „Kampagne gegen die Kirche“, die ihn an die 1941 und die Nazi-Hetze gegen die Katholische Kirche erinnere. Nicht nur der Zentralrat der Juden in Deutschland bewertete diesen Angriff als Geschichtsklitterung, auch Bischofskollegen distanzierten sich.

Der Kurienkardinal Walter Kasper etwa forderte Müller auf, nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern vor der eigenen Türe zu kehren. Besonders aggressiv griff Müller die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger an (was ihm später gerichtlich untersagt wurde): Sie gehöre „einer Art Freimaurer-Vereinigung an, die Pädophilie als Normalität darstellt, die entkriminalisiert werden soll.“ So eine Gruppe könne „uns nicht kritisieren.“ 

Der SZ-Autor Heribert Prantl bezeichnete Müllers Wirken von 2002 bis 2012 in Regensburg schlicht als ein „Fiasko“.

Der den Wolf nicht fürchtet

Ende März 2010 äußerte Bischof Müller sich dann in seinem Hirtenwort etwas differenzierter. Er verurteilte die sexuellen Übergriffe als „ein Verbrechen und eine Todsünde“. Und bemängelte, dass die Kirche sich in der Vergangenheit „zu wenig pastoral und therapeutisch um die Opfer gekümmert“ habe. Den Opfern gelte „unser tiefes Mitgefühl“ und „ihrer Ehre und Würde“ sei es geschuldet, „dass ihnen Gerechtigkeit“ widerfahre.

Im zweiten Teil des Hirtenworts sah Müller allerdings wieder eine üble Verschwörung am Werk: „Ein Glanzstück des Bistums Regensburg soll in den Dreck gezogen werden“. Müller malte Schimären an die diskursive Wand, „die um jeden Preis die katholische Kirche um ihren guten Ruf bringen wollen“ und sich „die ‚Regensburger Domspatzen‘ als Opfer ausgesucht“ hätten. Das Heulen der Wölfe schrecke ihn aber keinesfalls: „In der Stunde der Bedrängnis sorgt sich jeder Hirte um die Schafe.“

Das Versagen des Medienprofis

Dabei blieb es. Müller sorgte sich in der Folge eher um sein Image und um die in seinen Augen bedrängte Christenheit als um die Opfer von Missbrauch und Misshandlung. Die Presseabteilung des Ordinariats unterstützte diese Linie nach Kräften, teilweise war dort sogar Stimmungsmache gegen öffentlich auftretende Betroffene sexueller und körperlicher Gewalt zu hören. Vielleicht glaubte man im bischöflichen Ordinariat tatsächlich an ein von den Medien aufgebauschtes Problemchen und verkannte die gewaltigen Ausmaße und das Wesen des Missbrauchsskandals.

Gerade ehemalige Domschüler, die trotz eigener Gewalterfahrung noch in den Einrichtungen der Domspatzen tätig sind, traten als Beschützer ihrer „Institution“ auf. Und hofften schon im Mai 2010 wieder aus den negativen Schlagzeilen und der medialen Defensive zu kommen. Im Jahresbericht des Domspatzen-Gymnasiums legte Schulleiter Berthold Wahl etwa ein beredtes Zeugnis für diese aufklärungsfeindliche und an positiver Propaganda interessierte Haltung ab:

„In enger Absprache mit dem Medienprofi und bischöflichen Pressesprecher, Herrn Clemens Neck, haben wir daher alle unsere weiteren Vorgehenswege besprochen. So verständlich und richtig der Wunsch zahlreicher Schüler und Eltern ist (der übrigens auch uns immer wieder unter den Nägeln brannte), die Domspatzen müssten endlich in die Offensive gehen, so schwierig ist es aber auch, den hierfür richtigen Zeitpunkt zu finden, damit die Wirkung nicht verpufft. Dieser wird sicherlich kommen, dieser ist jedoch wegen der frühzeitigen Drucklegung dieses Berichts (Ende Mai) nur in Planung, aber noch nicht terminiert.“

Die erhoffte Offensive blieb ebenso aus wie ein vernehmbarer Beitrag zur Aufklärung von Schulleiter Wahl. Der Medienprofi Neck, von Bischof Müller nach Regensburg geholt, versagte auf ganzer Linie. 

Drei Kreuze für GLM

Die öffentliche Kritik von Bischofskollegen an Müllers Vorgehen in der Thematik sexueller Missbrauch riss indes nicht ab. Der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz (Stephan Ackermann etwa zeigte sich in einem Brief an Müller vom März 2012 besorgt: „Es gibt Dinge, die nachdenklich stimmen“).

Als GLM Müller im Juli 2012 nach Rom berufen wurde, trauerte ihm in der Diözese kaum jemand nach. Sowohl konservative als auch offene Christinnen und Christen zeigten sich damals zumeist stockerleichtert. Einige schlugen gleich mehrfache Kreuze. Vielfach wurde die Hoffnung geäußert, sein Nachfolger könne die irgendwie angekündigte aber versandete Aufklärung der Übergriffe in den Einrichtungen der Domspatzen endlich voranbringen. Die Täter beim Namen nennen und das Leid der Betroffenen anerkennen. Endlich einen detaillierten Bericht präsentieren.

„Er hat es nicht mehr verdient, als ‚Seelsorger‘ bezeichnet zu werden.“

Der „oberflächliche und teilweise menschenverachtende Umgang der Diözese Regensburg und ihrer Vertreter mit den Opfern des sexuellen Missbrauchs“ führte – so die Begründung der Initiatoren – im Juli 2012 zur Gründung der Gesellschaft gegen das Vergessen. In einem <em>Unabhängigen Archiv ehemaliger Regensburger Domspatzen</em> sollen künftig alle Übergriffe dokumentiert werden. Nach Ansicht der Macher des Archivs, die aus dem Umfeld der seit 2010 betriebenen Website intern-at kommen, habe es Müller „nicht mehr verdient, als ‚Seelsorger‘ bezeichnet zu werden“.

Ein nachvollziehbarer und öffentlich kommunizierter Aufklärungsprozess unter Gerhard Ludwig Müller war und ist auch in Rom, wo er nun an höchster Stelle, als Präfekt der Glaubenskongregation, für die Bearbeitung der Verstöße gegen das sechste Gebot verantwortlich ist, nicht erkennbar.

Zunächst keine Wende unter Voderholzer

Die großen Hoffnungen auf Müllers Nachfolger, dem im Januar 2013 geweihten Rudolf Voderholzer, wurden zunächst enttäuscht. In einer Pressekonferenz von Juni 2013 erklärte Voderholzer, ein Schüler Müllers, dass er an der bisherigen Aufarbeitung und dem Umgang mit Missbrauchsbetroffenen nichts zu beanstanden habe. Offenbar ohne Detailkenntnis in der Sache erklärte er, alles sei angemessen abgelaufen. 

Dennoch geht Voderholzer anders vor. Noch zusammen mit der Ende Mai 2013 verstorbenen Missbrauchsbeauftragten des Bistums, Dr. Birgit Böhm, sucht er das Gespräch mit einigen Betroffenen. Auf Anraten seines Bruders, eines Psychotherapeuten und Arztes für Psychosomatik, habe er dies getan. Im Interview mit der Mittelbayerischen Zeitung vom 27. November 2013 sprach Voderholzer von einer „persönliche Belastung“ angesichts der ergreifenden Gespräche und der dahinter stehenden Leidensgeschichte. Er schäme sich „für jeden einzelnen Fall“.

Über die bereits bezahlten finanziellen „Anerkennungsleistungen“ der Diözese für die Missbrauchsopfer wollte der Bischof damals nicht sprechen, sie seien nach seinem „Dafürhalten wirklich angemessen“.

Wende nach „Akte Domspatzen“

Die Wende kam erst mit der ARD-Doku „Sünden an den Sängerknaben“ vom 7. Januar 2015. Die Filmemacherin Mona Botros hatte mit ihrem Film Die Akte Regensburger Domspatzen, die den Leidensweg der drei ehemaligen Domspatzen Georg Auer, Udo Kaiser und Alexander Probst eindringlich darstellte, einen bundesweiten Sturm der Entrüstung ausgelöst. Einen Sturm in ungekannter Dimension, auf den Bischof Voderholzer reagieren musste..

In seiner Ansprache zu seinem zweiten Weihejubiläum vom Januar 2015 zeigte sich Bischof Voderholzer „entsetzt und beschämt“ über die Vorfälle bei den Domspatzen. Darüber, dass von „so vielen weitgehend Gleichlautendes berichtet“ werde, den Opfern aber nicht geglaubt „und somit ihr Leid verdoppelt“ werde. Er wolle mit möglichst vielen Opfern persönlich sprechen, sie anhören „und sie auch persönlich um Vergebung zu bitten“.

Während man dies als Abkehr vom bisherigen Vorgehen des Ordinariats auffassen konnte, schwenkte Voderholzer sogleich auf die alte starre Linie ein. Die in der Vesperansprache anwesenden „Domspatzen“, die er zu seinen „wichtigsten Mitarbeitern“ rechnet, spricht er direkt an. Sie seien in „den letzten Tagen und Wochen mancher Anfeindung ausgesetzt“ gewesen. Es sei allerdings nicht verwunderlich, dass sie „als eine so herausragende Institution das besondere Augenmerk der Öffentlichkeit, vielleicht auch manche Eifersucht und Neid auf sich“ zögen. Müllers Ideologie scheint hier deutlich durch.

Bischof Voderholzer muss einlenken

Sieben Wochen nach der Ausstrahlung von „Sünden an den Sängerknaben“ lenkte die Diözese ein. Überraschenderweise gab sie ihre starre Linie auf und kündigte an, dass auch das Leid der Opfer von körperlicher Gewalt der Domspatzen-Einrichtungen von Etterzhausen und Pielenhofen pauschal mit 2.500 Euro „anerkannt“ werden solle.

Von Kardinal Müller und seinem Vorgehen bei in Rom bekannten kirchlichen Missbrauchsfällen hörte man zwischenzeitlich nichts Positives. Im Gegenteil: Müller musste sich nachsagen lassen, dass in der von ihm geleiteten Glaubenskongregation ein Missbrauchstäter sitzen und dubioses Bargeld aus seinen Dienstgeschäften in einer Würstel-Dose gebunkert würde

Auftrag zur Aufklärung an Rechtsanwalt Weber

Zwei Monate später und nach einem kaum zu steigernden Druck auf Internat und Schulen der Domspatzen folgte der nächste Schritt: Ende April 2015 beauftragte das bischöfliche Ordinariat den Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber mit der Aufklärung und Dokumentation aller sexuellen und körperverletzenden Übergriffe. Im Januar 2016 lieferte Anwalt Weber die ersten Zwischenergebnisse, welche die düsteren Schätzungen von Betroffenen bestätigten. 

Ein auf Anregung von Rechtsanwalt Weber einberufenes Kuratorium, das sich paritätisch aus Betroffenen, dem Bischof und Bistumsangestellten zusammensetzte, traf sich zum ersten Mal Anfang Februar 2016. Daraus entstand rasch ein weiteres, verschlanktes Gremium, das sich ausschließlich um die Modalitäten einer externen Aufarbeitung kümmern soll. In dieser Runde arbeiteten die ehemaligen Domspatzen Michael Sieber, Peter Müller und Peter Schmitt und seitens des Bistums Bischof Rudolf mit Domkapellmeister Roland Büchner und Internatsdirektor Rainer Schinko. 

Nach acht Monaten Verhandlungen wurden Anfang Oktober 2016 das vierteilige Ergebnis dieses Aufarbeitungsgremiums auf einer Pressekonferenz präsentiert: die neutrale Anlaufstelle für Betroffene beim Münchner Informationszentrum für Männer (MIM); in Anlehnung an die Entschädigungspraxis von Kloster Ettal ein kirchenunabhängiges Anerkennungsgremium, das die Anträge auf Anerkennungsleistungen für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch bearbeitet (Anträge hierzu: http://www.intern-at.de/aufarbeitung/); der Auftrag für eine sozialwissenschaftliche Studie an die Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden (über die Bedingungen, die Körperverletzung und sexuellen Missbrauch in den Einrichtungen der Domspatzen ermöglicht und so lange Zeit zugelassen haben); und eine historische Studie (über die Zeitumstände der Übergriffe bei den Regensburger Domspatzen) unter der Leitung des Lehrstuhlinhabers für Bayerische Geschichte Professor Bernhard Löffler, die auf Wunsch von Bischof Voderholzer beschlossen wurde (Details dazu).

Fast nur Lob für die Ergebnisse

Das Verhandlungsergebnis stieß auf weitgehende Zustimmung. Nicht nur die am Verhandlungstisch sitzenden Ex-Domspatzen zeigten sich erleichtert. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, konstatierte zum Beispiel, man habe in Regensburg aus den Fehlern und den Versäumnissen der Vergangenheit offenbar gelernt. Das Erreichte sei „wohltuend und ein wichtiges Signal an Betroffene“, das hoffentlich „auch im Vatikan die Aufmerksamkeit erhält, die es verdient, insbesondere beim Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller“.

Dass das Regensburger Ordinariat nur für die Missbrauchten und Misshandelten der Domspatzen-Einrichtungen Empathie und Aufarbeitungswillen zeigt, hielt Rörig nicht von seinem pauschalen Lob ab. 

Vereinzelte Kritik

Vereinzelte negative Kommentare von meist anonym auftretenden ehemaligen Domspatzen monierten, dass sie sich nicht von dem Gremium vertreten fühlten und die verhandelnden drei Ex-Domspatzen wenn nicht gekauft, so doch in der Sache über den Tisch gezogen worden seien. Dass die wesentlichen Verhandlungsergebnisse allein nach langem Kampf und auf Verlangen der Ex-Domspatzen zustande kamen und im Vergleich mit anderen Bistümern positiv heraus ragen, wurde dabei ignoriert.

Irritationen entstanden (auch unter Medienleuten) daraus, dass der Verhandlungsprozess auf der bereits erwähnten Pressekonferenz als glatt und die teils gravierenden Differenzen eigenartigerweise gar nicht dargestellt wurden. Wie in einem Gespräch mit einem Kirchenmann zu vernehmen war, sollen die achtmonatigen Verhandlungen mehrfach kurz vor dem Abbruch durch Betroffene gestanden haben. Hätte man diese Schwierigkeiten angemessen thematisiert und nicht verschwiegen, wären die Verdienste des Aufarbeitungsgremiums noch deutlicher geworden und höher zu bewerten.

Bitte um ein Gespräch mit dem Kardinal

Gewisse Irritationen dürften sich auch daraus speisen, dass auf der Pressekonferenz kritische Nachfragen an Bischof Voderholzer, die auf Kardinal Müller zielten, von Ex-Domspatzen abgebügelt worden sind. Es sah tatsächlich so aus, als ob Ex-Domspatzen den amtierenden Bischof vor einer Bewertung seines Vorgängers schützen müssten. Eine Erklärung hierfür gab Peter Schmitt, der auf Anregung von Bischof Voderholzer im Aufarbeitungsgremium saß: Man suche mit Präfekt Müller noch ein eigenes Gespräch und wolle sich dazu aktuell nicht weiter äußern.

Kardinal Müller, der gleich nach der Bekanntgabe der Verhandlungsergebnisse vom BR befragt wurde, wollte sich zunächst überhaupt nicht mehr zu der Thematik der Übergriffe bei den Domspatzen äußern. Den Ruf, nicht Teil einer lobenswerten Aufarbeitung, sondern ihrer Hindernis gewesen zu sein, konnte Müller indessen nicht auf sich sitzen lassen.

Der Kardinal und sein Sprachrohr PNP

Über zwei Monate nach der Pressekonferenz äußerte sich Präfekt Müller erneut. Dies tat er in einem Interview in der Passauer Neuen Presse vom 16. Dezember 2016 mit Domspatzen-Funktionär Karl Birkenseer. 

Birkenseer wollte vom ehemaligen Bischof von Regensburg wissen, ob er „zu einem Gespräch mit Opfervertretern bereit“ sei, wie auf der oben genannte Pressekonferenz gebeten wurde. Birkenseer: „Wird es zu einem solchen Gespräch kommen?“ Müller antworte ausweichend und redete unpassender Weise als Seelsorger, nach dem aber nicht gerufen wurde: „Persönliche seelsorgerliche Gespräche bleiben ihrer Natur nach vertraulich.“ Was er „zur Aufklärung der Straftaten gegen Kinder und Jugendliche, die sich allerdings schon 40 bis 50 Jahre vor meinem Amtsantritt als Bischof von Regensburg ereignet“ hätten, beitragen könne, werde er Rechtsanwalt Ulrich Weber mitteilen.

Man fragt sich, ob der im Vatikan für sexuelle Übergriffe von Geistlichen zuständige Kurienkardinal Müller zur Aufklärung überhaupt irgendetwas beitragen kann, wenn er glaubt, es gehe nur um Straftaten aus der Zeit vor „40 bis 50 Jahren“?

Bischof Müller als Initiator der Aufarbeitung?

In seiner Eigenschaft als Bischof von Regensburg habe er, so Müller in der PNP weiter, im März 2010 „nach den erstmaligen Meldungen dieser schweren Delikte an die Bistumsleitung den Aufklärungsprozess initiiert und strukturiert“. Der jetzige Bischof Rudolf habe „das 2010 Begonnene mit großem Engagement fortgesetzt“, worüber er, Müller, aber „froh und dankbar“, sei. Dass er den Aufklärungsprozess sogar nach seinem Weggang noch verzögert habe, seien gezielt verbreitete „postfaktischen Behauptungen“ und ein „Versuch, einen früheren Bischof von Regensburg gegen den jetzigen auszuspielen“. Müllers Beweis: „Wie aus der ‚Chronologie der diözesanen Aufarbeitung‘ auf der Homepage des Bistums“ hervorgehe, habe er „den Aufklärungsprozess initiiert und strukturiert“.

Sucht man in dieser Chronologie, die Anfang Dezember 2016 auf der Bistumshomepage veröffentlicht wurde, Angaben darüber, wer die eigentliche Aufklärungsarbeit ab 2010 geleistet und geleitet hat, wird namentlich der Generalvikar Michael Fuchs genannt. Der Bischof habe demzufolge seinen Generalvikar Fuchs beauftragt, die „dazu nötigen strukturellen Maßnahmen einzuleiten“. Da Michael Fuchs auch der Verfasser der Chronologie selbst ist, schließt sich der selbstreferentielle Kreis.

Konträr dazu ein Faktum, das man der Fuchsschen Chronologie nicht entnehmen kann: Bischof Voderholzer hat seinen formal-rechtlich zuständigen Generalvikar Fuchs von den entscheidenden Verhandlungen im erwähnten Aufarbeitungsgremium 2016 kurioserweise gänzlich ferngehalten. Die Namen jener Ex-Domspatzen, die das verdienstvolle Verhandlungsergebnis im Grunde erarbeitet und durchgesetzt haben, sucht man jedoch in der Fuchsschen Chronologie vergebens.

„Der geschwundene Vertrauensverlust“ für das Bistum

Bemerkenswert erscheint noch, dass die Fuchssche Chronologie bislang streng geheim gehaltene Details ausgeplaudert. Wie etwa interne Termine. Oder, dass die bisher ausbezahlte Anerkennungssumme für sexuell Missbrauchte durchschnittlich 7.871 Euro betrage und auch Nicht-Domspatzen darunter sind – ein Detail, das bislang überhaupt noch nicht kommuniziert wurde.

Sehr problematisch für die Aufklärungsarbeit unter Rechtsanwalt Ulrich Weber dürfte das von Fuchs erstmals lancierte Detail sein, wonach viele der „Besprechungs- und vermutlich einige Antragsakten“ von Betroffen, die sich an Dr. Birgit Böhm gewandt hatten, nach ihrem Tod von ihrem Sohn unter Verschluss gehalten werden würden und somit nicht zur Aufklärung herangezogen werden können. Die bischöfliche Administration klage gerichtlich auf ihre Herausgabe, so Fuchs.

Da die „Chronologie der diözesanen Aufarbeitung“ vor sachlichen Fehlern, logischen Brüchen, widersinnigen Stilblüten („der geschwundene Vertrauensverlust“) und unstimmigen Gefälligkeiten strotzt, dürfte sie ihrerseits Teil der laufenden Untersuchung werden.

Spielt Müller ein falsches Spiel?

Was sagt der „Opfervertreter“ Peter Schmitt, der um ein Gespräch mit Müller gebeten hatte, zu dessen Einlassungen in der PNP und der Fuchsschen Chronologie? Auf Nachfrage erklärte Schmitt gegenüber regensburg-digital, dass es ihm nicht um „seelsorgerisches“, sondern „vielmehr um ein reflektierendes und selbstkritisches Gespräch“ gehe.

Er wolle über Fehler sprechen, „die möglicherweise seit Bekanntwerden der Missbrauchsvorwürfe 2010 gemacht worden“ seien. Er, Schmitt, nehme Müllers Interviewaussage zwar positiv aber auch erstaunt zur Kenntnis, da er „den Kardinal im Juni 2016 vergeblich um ein Gespräch gebeten“ und „lediglich eine negative schriftliche Antwort seines Privatsekretärs bekommen“ hätte.

Weitere Anläufe seien ebenso fruchtlos geblieben, weshalb er skeptisch hinsichtlich des Zustandekommens eines Gesprächs sei. Die von Müller angeführte Fuchssche Chronologie, sei „einseitig aus Sicht des Bistums formuliert“. Die vom Aufarbeitungsgremium beschlossene historische bzw. soziologische Studie werde als Ergebnis, so hofft Schmitt, „den Aufarbeitungsprozess umfassend und unabhängig dokumentieren“.

Die geklitterte Chronologie bleibt

Was der ehemalige „Domspatz“ Peter Schmitt erwartet, dürfte Kardinal Gerhard Ludwig Müller bedrängen: eine unabhängige Dokumentation und externe Bewertung des Aufarbeitungsprozesses, der bis 2012 unter Bischof Müller fast versandet wäre.

Warum Voderholzer sich mit der fraglichen Legitimation durch die Fuchssche Chronologie von Kardinal Müller die Lorbeeren für den laufenden Aufarbeitungsprozess stehlen lässt? Vermutlich steht der jetzige Bischof seinem Vorgänger doch näher als den sexuell Missbrauchten und körperlich Verletzten. Da kann die Chronologie zu Gunsten des aktuell sehr mächtigen Glaubenspräfekten schon mal geklittert und das grundlegende Engagement der Betroffen ausgeblendet werden.

 




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