BishopAccountability.org
 
 

"Ich Bin Ein Monster Mit Zwei Personlichkeiten"

By Laurent Grabet und Jean-Guy Python
Blick
February 16, 2017

http://www.blick.ch/storytelling/2017/pater-joel/index.html

Eine Begegnung mit dem Teufel hochstpersonlich war an diesem kalten, verschneiten Freitagmorgen zu erwarten gewesen. Doch umstandlich kommt uns ein beleibter 76-Jahriger entgegen, gestutzt auf einen Rollator. «Ich schleppe meine Vergangenheit hinter mir her», eroffnet der aus der Romandie stammende Gottesmann das Gesprach. Er hat sich seit acht Jahren in ein Deutschschweizer Kloster zuruckgezogen. Man spricht ihn hier in vorwurfslosem Ton mit Pater Joel an. Im Buch, das sein Treiben enthullt (BLICK von gestern), wird er mit vollem Namen genannt.

«Ich setzte meinen Status als Erwachsener ein, um diese Taten zu begehen.»

Beim Teilen des Dreikonigskuchens unter den rund zwanzig Mitbrudern im Speisesaal des Kapuziner-Klosters findet der Waadtlander den Konig in seinem Stuck – und wird lachelnd begluckwunscht. Abgesehen vom getrubten und ein wenig fahrigen Blick macht nichts den Anschein, dass der alte Herr mit seiner Schwache fur Susses «ein Monster, ein Raubtier mit zwei Personlichkeiten» ist, wie er selbst sagt. Und dass er sich im Lauf von vier Jahrzehnten an Buben vergangen und dabei «etwa vierzig Unschuldige massakriert» hat.





Daniel Pittet (57), eines seiner Opfer, hat eben ein Buch uber sein Martyrium veroffentlicht, mit einem Vorwort von Papst Franziskus. Er schatzt, dass es um dreimal mehr Opfer geht. «Ich setzte meinen Status als Erwachsener ein, um diese Taten zu begehen. Damals war ich mir nicht bewusst, dass ich diese Jungen manipulierte. Ich fuhlte mich ihnen gegenuber selber wie ein Kind», bringt deren Vergewaltiger vor.

Nach funfzehn Jahren einer eben abgeschlossenen Psychotherapie sagt der Mittsiebziger jetzt, im Winter seines Lebens, er habe «enorme Schuldgefuhle». Er «leide unter dem Leiden», das er in den Kantonen Freiburg, Waadt, Wallis, Jura und in Frankreich verursacht habe. Wenn sein Treiben aufflog, wurde er jeweils an einen andern Ort versetzt.

«Oft waren es sehr sensible Buben. Sie hangten sich an mich wie auf der Suche nach einer Vaterfigur.»

Der Kinderschander spricht mehr von sich als von seinen Opfern. Es habe lange gedauert, bis er sie uberhaupt als solche wahrgenommen habe, bekennt er.

«Oft waren es sehr sensible Buben. Sie hangten sich an mich wie auf der Suche nach einer Vaterfigur. Ich ging eine richtige Beziehung zu ihnen ein. Ich gab ihnen spontan Geschenke und brachte ihnen Anerkennung entgegen. Erst viel spater begriff ich, dass ich sie manipulierte. Eines Tages kippte ich dann … Der Drang war einfach zu stark. Ich hatte Angst, entdeckt zu werden, aber bremsen konnte ich mich nicht. Als ob zwei Personen in mir drin gewesen waren: hier der Priester, der gerne predigt, dort jemand mit einem tief sitzenden Unbehagen …» Oft habe er sich einige Monate lang sexuell zuruckgehalten – nur um dann noch ubler «ins Schlingern geraten» zu sein, wie Pater Joel sagt. Er habe oft daran gedacht, sich das Leben zu nehmen.

«Weshalb bin ich padophil?» Diese Frage quale ihn, seit er sich vor 15 Jahren endlich eingestanden habe, eben genau das zu sein – und eine psychiatrische Klinik aufgesucht habe. Antwort darauf hat der Priester immer noch keine gefunden. Dass er gegenuber seinem Opfer Daniel Pittet zur Tatzeit mehrmals verlauten liess, er sei in seiner Kindheit selbst von einem Priester «eingefuhrt» worden, daran erinnere er sich nicht. Dies sei ubrigens nicht etwa dem «wie Schnee an der Sonne schmelzenden Erinnerungsvermogen» zuzuschreiben.

Hingegen raumt der Pado-Priester ein, er habe homosexuelle Beziehungen zu Klassenkameraden gehabt, seit er zehn gewesen sei. Schuldgefuhle plagten ihn deswegen keine. «Bei Madchen ware das ganz anders gewesen», erganzt er mit seltsamer Logik. Der junge Waadtlander wurde alter, die sexuelle Anziehung hingegen blieb bei Buben vor der Pubertat stecken.

«Ich bin mit diesen Neigungen geboren und werde sie mein Leben lang in mir tragen. Padophilie erwischt man nicht wie eine Grippe», halt er fest. «Aber jetzt habe ich mir ein inneres Gefangnis mit soliden Gitterstaben gebaut.» So – und mit dem Alterwerden – habe er sich grosstenteils von seinen zerstorerischen Trieben befreit, meint der Priester.

Er darf keine pfarramtliche Tatigkeit mehr ausuben und hat in seinem beruflichen Umfeld seit 2005 keinen Kontakt mehr zu Kindern. «Das kam viel zu spat», regt sich Daniel Pittet auf, der den Fall schon 1990 bei den Kapuzineroberen angezeigt hat. Umso mehr, als Pater Joel trotz allem frei durch die Gassen seiner Wahlheimatstadt streifen kann. Er erzahlt sogar freimutig, wie er mit einer Angestellten des Klosters und deren vierjahrigen Enkelin den Kinderzoo Rapperswil besucht hat. Unserem Besuch und seinen Ausserungen in Pittets Buch hat er zugestimmt, weil das «eine Art kleine Wiedergutmachung» sei.

Doch warum ging er so weit, den Buben Daniel Pittet in die Ferien zu seinen Eltern mitzunehmen und ihn dort zu vergewaltigen? Weshalb schoss er bei seinen Missbrauchen manchmal pornografische Fotos? Bei unangenehmen Fragen lasst Pater Joels Gedachtnis immer gerade nach. Und doch wirkt jedes zweite Schulterzucken ehrlich. Machtvolle Leugnungs- und Verdrangungsmechanismen scheinen hier am Werk zu sein.

Ein Gefangnis hat dieser religiose Padosexuelle nie von innen gesehen. In Frankreich wurde er einst zwar verurteilt, aber nur zu zwei Jahren auf Bewahrung. Furchtet er sich davor, dass nun weitere seiner Opfer auftauchen und ihn belasten konnten? «Ich glaube, das ist alles verjahrt. Aber klar, die Angst ist da», sagt er. Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern verjahrt in der Schweiz seit 2013 nicht mehr. Das gilt allerdings nicht ruckwirkend (ausser fur Delikte, die am 30. November 2008 – Annahme der Unverjahrbarkeitsinitiative – noch nicht verjahrt waren).

«Ich bin mit diesen Neigungen geboren und werde sie mein Leben lang in mir tragen.»

Das Priesteramt sei teilweise eine Flucht gewesen, gibt er zu. Und sein Glaube? Der ist von «starken Zweifeln» gepragt und scheint seinen Weg nicht eben erleuchtet zu haben. «Weder Gott noch Teufel haben etwas damit zu tun. Ich hatte die Arbeit mit Kindern ablehnen und fruher eine Therapie beginnen mussen», konstatiert er im Speisesaal des Klosters, kurz bevor die Suppe zum Mittag auf den Tisch kommt. An den Wanden hangen Fotos, die er hier gemacht hat. Auf allen herrscht eine traurige Grundstimmung, aber uberall findet sich irgendwo ein Licht, «ein Hoffnungsschimmer», wie er sagt.

Einige Wochen zuvor hatte der Alte im selben Saal auch Daniel Pittet zu Besuch, eines seiner Opfer. «Ich furchtete mich und zugleich freute ich mich, ihn wiederzusehen. Den kleinen Daniel habe ich in diesem so stattlichen Mann nicht wiedererkannt. Seine Starke und sein Glaube haben mich beeindruckt. Es hat mir gutgetan, dass er mir vergeben hat.» Zum Abschied hat der Freiburger seinen Peiniger sogar umarmt.

 

 

 

 

 




.

 
 

Any original material on these pages is copyright © BishopAccountability.org 2004. Reproduce freely with attribution.