BishopAccountability.org
 
 

Die Zeugen Jehovas Schweigen

Neue Zurcher Zeitung
March 9, 2017

https://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/sexueller-missbrauch-die-zeugen-jehovas-schweigen-ld.149311

Alljahrlich treffen sich im Sommer mehrere tausend Mitglieder der Zeugen Jehovas zu einem dreitagigen Regionalkongress im Zurcher Hallenstadion. (25.Juli 2009). (Bild: Alessandro della Bella / Keystone)

Ein neuer Bericht der Fachstelle Infosekta in Zurich befasst sich mit sexuellem Missbrauch an Kindern bei den Zeugen Jehovas. Das Fazit lautet, dass die meisten Falle nicht publik werden. Grunde dafur sind das abgeschottete System der Religionsgemeinschaft sowie die eigene sogenannte Zwei-Zeugen-Regel, wonach neben dem Opfer eine zweite Person die Tat mitbekommen haben muss. Weiter schrecke die interne Gerichtsbarkeit der Zeugen Jehovas Betroffene ab, ihre Erlebnisse bekanntzumachen.

Das System der Gemeinschaft funktioniert weltweit gleich. Ein Komitee aus Altesten – so werden die Geistlichen bezeichnet, welche die Versammlungen leiten – urteilt uber Vergehen. Laut Betroffenen, Therapeuten und Experten, mit denen die «NZZ am Sonntag» gesprochen hat, mussen Opfer vor dem Gremium detailliert schildern, was ihnen widerfuhr (siehe Infobox). Betroffen sind in der Regel Madchen, die Tater Manner, oft machtig und angesehen in der Gruppe. Anzeigen bei der Polizei versuche die Gemeinschaft moglichst zu verhindern, sagen Insider. Teilweise wurden Vorsitzende der Zeugen Jehovas in der jeweiligen Landeszentrale einbezogen, um aus der Ferne uber Falle zu entscheiden.

Eine betroffene Mutter erzahlt

(asc.) Dass ihre Tochter im Alter von 13 Jahren von einem fast zehn Jahre alteren Mann aus den Reihen der Zeugen Jehovas sexuell missbraucht worden war, hat die Mutter erst viel spater erfahren. Der Tater ging zur Schule des Madchens, holte es wahrend des Unterrichts ab und verging sich an ihm. Mit der gefalschten Unterschrift der Mutter entschuldigte er das Fehlen der Schulerin in den Lektionen. Dies kam erst aus, nachdem die Familie aus dem benachbarten Ausland in die Schweiz gezogen war.

Das Paar wandte sich an die Altesten, die Leiter der ortlichen Gemeinschaft der Zeugen Jehovas und an jene des fruheren Wohnorts. Das Gremium in der Schweiz riet der Familie ab, sich einen Anwalt zu nehmen. Sie solle sich stattdessen an die Leitung der Organisation in den USA wenden. Weil der Vater des Opfers aber einen Anwalt beizog, setzte es in der Gemeinschaft eine Schelte ab.

Uber den Fall befand ein internes Gerichts-Komitee. «Meine Tochter musste vor diesen Mannern, mir und ihrem Vater erzahlen, was vorgefallen war. Sie wurde uber intimste Details befragt», sagt die Mutter. Sie habe herausgefunden, dass der Tater schon fruher Madchen missbraucht habe; dies habe sie gemeldet. «Doch das wollte bei den Zeugen Jehovas niemand wissen.»Ihr Brief an die Altesten in den USA sei von der lokalen Gruppe nie abgeschickt worden, kritisiert die Mutter. Nachdem die Tochter selber die Gruppe verlassen hatte, legte die Gemeinschaft den Eltern nahe, den Kontakt mit der Minderjahrigen, die noch zu Hause wohnte, aufs Notigste zu beschranken. «Spater, als die Tochter 18 Jahre alt wurde, forderten uns die Zeugen Jehovas auf, sie von zu Hause wegzuschicken und sie nur noch ein- bis zweimal pro Jahr zu treffen», berichtet die Mutter.

Die Gemeinschaft isoliert sich sozial, Kontakte mit der als unglaubig geltenden Aussenwelt sind verpont. Einzige akzeptierte Autoritat ist Gott, Geburtstage, Weihnachten und Ostern werden nicht gefeiert. Die Entfremdung vom Weltlichen zeigt sich auch im Endzeit-Glauben, der stets mit dem Weltuntergang rechnet.

Zulauf bei Fachstellen

Weil das Erlebte fur viele Betroffene kaum zu verarbeiten ist, holen sie – haufig erst Jahre spater – doch professionelle Hilfe. Allein die Zurcher Beratungsstelle Castagna, die sexuell Ausgebeutete unterstutzt, betreute 2016 zwolf Personen, die bei den Zeugen Jehovas missbraucht wurden. «Ihre Schilderungen klingen alle ahnlich», sagt Psychotherapeutin Regula Schwager von Castagna. Bei sexuellen Ubergriffen innerhalb der Gruppierung halte der Glaube dafur her, die Opfer zu instrumentalisieren. «Das Vertrauen und die Abhangigkeit der Kinder und Jugendlichen werden skrupellos ausgenutzt.» Wer anderen von den Vorkommnissen erzahlt, gilt laut Schwager als Lugnerin oder Nestbeschmutzerin.

Die Fachstelle Infosekta erhielt letztes Jahr hundert Anfragen im Zusammenhang mit den Zeugen Jehovas. Das sind zehn Prozent aller Kontakte. Zu den Zeugen Jehovas mit ihren 18 000 Schweizer Mitgliedern hat Infosekta seit Jahren am meisten Anfragen. International ist die Gemeinschaft in den Fokus geraten, seit eine staatliche Untersuchungskommission in Australien weit mehr als tausend Falle von sexuellem Missbrauch an Kindern aufgedeckt hat.

Bei den Zeugen Jehovas hatten Ansehen und Wohl der Organisation oberste Prioritat, sagt Barbara Kohout, die in Deutschland eine Selbsthilfegruppe fur Aussteiger grundete. Sie selber hatte der Gemeinschaft jahrzehntelang angehort. In der geschlossenen Gruppe fuhlten sich die Tater geschutzt und sicher, sagt Kohout. In diesem Punkt sieht sie Parallelen zu Missbrauchsfallen in der katholischen Kirche.

Feindlich gesinnte Kreise

Wolfram Slupina, Sprecher der Zeugen Jehovas, geht auf Fragen zur Zwei-Zeugen-Regel und zur eigenen Gerichtsbarkeit nicht konkret ein. Er halt fest, die Religionsgemeinschaft sei fur konstruktive Kritik stets offen und habe seriose Anregungen zur Verbesserung der Verfahrensweisen laufend umgesetzt. Slupina betont mit Verweis auf interne Dokumente, dass die Gemeinschaft sexuelle Missbrauche als Verbrechen taxiere und ahnde. Ausschliesslich den Zeugen Jehovas feindlich gesinnte Kreise erhoben in der Schweiz Vorwurfe, die Gemeinschaft verhalte sich nicht korrekt, betont Slupina. Von Behorden oder Gerichten hingegen komme keine solche Kritik. «Es gibt nicht einen einzigen uns bekannten rechtlich relevanten Vorgang, der die Zeugen Jehovas betrifft. Das spricht Bande.»

 

 

 

 

 




.

 
 

Any original material on these pages is copyright © BishopAccountability.org 2004. Reproduce freely with attribution.