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Opfer Brechen Ihr Schweigen

Blick
March 17, 2017

http://www.blick.ch/news/schweiz/dank-missbrauchs-enthuellungen-ueber-paedophilen-priester-pater-joel-opfer-brechen-ihr-schweigen-id6384096.html

Der padophile Pater Joel missbrauchte wahrend Jahrzehnten Dutzende von Buben – ohne dass er dafur zur Rechenschaft gezogen wurde. BLICK berichtete mehrmals daruber. Seit den Enthullungen melden sich weitere Padophilie-Opfer. Sie brechen ihr Schweigen, um weiterleben zu konnen.

«Reden befreit!» Da ist Daniel Pittet sicher. Letzten Monat erschien sein Buch «Mon Pere, je vous pardonne» (etwa: «Hochwurden, ich vergebe Ihnen»), in dem der 57-Jahrige schildert, wie er als Kind jahrelang vom padophilen Kapuzinerpriester Pater Joel (76) sexuell missbraucht wurde (BLICK berichtete).

Der Freiburger wollte mit seinen Enthullungen Opfer von Padophilie ermutigen, ihr Schweigen zu brechen. Und Pittet wurde nicht enttauscht. Auf das vielbeachtete Buch, zu dem Papst Franziskus das Vorwort schrieb, erhielt Pittet Hunderte von E-Mails, Briefen, Telefonanrufen.

«Das zeigt, dass auch andere den Mut fassen, um uber ihr Schicksal zu reden. Auch sie uberwinden jetzt nach und nach ihre Scham. Sie befreien sich von den Schuldgefuhlen, die sie so oft bedruckt haben», stellt der glaubige Katholik befriedigt fest.

Auch ein Padophiler wandte sich an Pittet

Gesprochen hat Pittet mittlerweile mit rund 30 Opfern und sogar einem Padophilen. «Ein Familienvater, der unglaublich leidet. Er lebt seine Neigung zum Gluck nicht aus, aber seine Fantasien drehen sich standig um seine Tochter. Ich habe ihm eindringlich geraten, einen Psychiater aufzusuchen.»

Pittet erhielt auch viele ermutigende Ruckmeldungen. Wie etwa jene einer 95-jahrigen Grossmutter aus dem Kanton Freiburg, die ihm gestand, dass sie wahrend ihrer Kindheit vom Vater missbraucht wurde. «Es war das erste Mal uberhaupt, dass sie jemandem davon erzahlte», sagt Pittet. Am Ende des Gesprachs habe sie gesagt: «Jetzt kann ich in Frieden sterben.»

Nicht ihr ganzes Leben lang warten wollen Jacques Nuoffer und Jean-Marie Furbringer. Zusammen mit weiteren Opfern treffen sie sich heute Freitag in Lausanne zu einem runden Tisch. Geladen hat die Vereinigung Sapec, die in der Schweiz die Opfer von sexuellem Missbrauch in der Kirche vertritt. Auch Daniel Pittet ist bei der Gesprachsrunde dabei.

Jacques Nuoffer (links) mit Buchautor Daniel Pittet.

Reden in der Hoffnung auf Befreiung

Jacques Nuoffer ist 72-jahrig, lebt in Biel BE, tragt Schnauz. Heute strotzt er vor Energie und Lebensfreude. Doch zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr wurde er von einem elf Jahre alteren Priester missbraucht. In Nuoffers Familie war dieser Franziskaner damals sehr angesehen. Und der junge Jacques hat Angst, dass ihm niemand glauben und er vom College fliegen wurde.

Trotzdem entschliesst er sich zu reden. Er sucht einen anderen Priester auf und erzahlt diesem alles. «Es war der 22. Dezember.» Nie wird Nuoffer diesen Tag vergessen, der seinem Leben eine neue Wendung geben sollte. Damals erkannte der Freiburger, dass er nicht sein ganzes Leben in der Opferrolle verharren muss. Opfer zu sein, war schmerzhaft, aber manchmal eben auch bequem. «Zum ersten Mal hatte ich jemandem mein Schicksal anvertraut. Psychisch war es eine grosse Erleichterung», erinnert sich Nuoffer.

Mit der Familie spricht er als Jugendlicher auch in den Jahren nach den Vorfallen kaum daruber. Er will nach vorn schauen und meint, er hatte die Vergangenheit hinter sich gelassen. Mit 31 wird er Vater. Just an diesem Tag uberfallt ihn panische Angst. Er entscheidet sich zu reden. In der Hoffnung, dass es befreit.

Jacques Nuoffer und Daniel Pittet im Gesprach.

Psychotherapie fur 220'000 Franken

Nuoffer beginnt eine Psychotherapie. Sie dauert 20 Jahre und kostet ihn rund 220'000 Franken. Das ist elfmal so viel wie der Maximalbetrag, den er heute von der Kirche als Genugtuung einfordern konnte. Aber das Geld und die Zeit sind es wert. Nuoffer, von Beruf selber Psychologe, hat sich seinem Leid gestellt. Heute ist er befreit von seinen Angsten, sein Leben lasst er sich nicht mehr unbewusst von seiner Vergangenheit diktieren.

Eines Tages gibt ihm eine Freundin aber zu verstehen: Um ganz mit sich ins Reine zu kommen, muss er Strafanzeige erstatten. Doch der Vorfall ist verjahrt, und der Peiniger lebt nicht mehr. Nuoffer sucht den Bischof auf, wunscht sich mehr Informationen und ein Schuldeingestandnis. Entschlossen und beharrlich verfolgt er diese Idee. Doch die katholische Kirche reagierte damals blauaugig, gleichgultig und unbedarft.

Fur Nuoffer kommt dieses Verhalten einem erneuten Missbrauch gleich. Als Reaktion grundet er den Verein Sapec. «Trotz aller Ruckschlage tragt dieser jahrelange Kampf nun Fruchte.» Es gebe noch immer extrem viel zu tun, aber heute konnten sich Opfer an eine neutrale Kommission wenden, die diesen Namen auch verdiene. «Das ist die grosste Genugtuung fur mich», sagt der Freiburger, der mittlerweile aus der Kirche ausgetreten ist.

«Die Ereignisse machten mich kaputt»

Besser ergeht es bei der Verarbeitung seines Schicksals Jean-Marie Furbringer. Als er 1995 realisiert, dass sich sein Peiniger womoglich noch immer an Kindern vergeht, erstattet er Strafanzeige. Auch die Taten gegen Furbringer sind da schon verjahrt, doch es tut ihm gut, von einem Untersuchungsrichter und einem Psychologen angehort zu werden.

Furbringer, inzwischen selber Familienvater, wurde im Herbst 1974 im Franziskanerheim von St-Maurice VS mehrmals missbraucht. Sein Peiniger: Pater Joel, der sich Jahre zuvor auch an Daniel Pittet und Dutzenden anderer Buben vergriffen hatte.

«Damals entkam ich ihm, indem ich einfach woanders studieren ging. Aber die Ereignisse machten mich kaputt. Ich hatte eine beschissene Jugend. Ich war alleine und gefangen in meiner Traurigkeit», erzahlt Furbringer, noch immer sichtlich bewegt. Wie sein Freund Nuoffer wird auch er mit 31 Jahren Vater, und auch fur ihn verandert sich an diesem Tag etwas.

Plotzlich verspurt der Physiker eine noch nie dagewesene Wut. Er tritt Espas bei, einer Vereinigung, die sich um die Opfer sexuellen Missbrauchs kummert. Im Oktober 1995 fasst Furbringer allen Mut und nutzt die Gelegenheit, seinen Peiniger zu konfrontieren.

Ein Rhone-Stein fur den Pater

Der Walliser ubergibt Pater Joel einen Stein aus dem Rhonebachbett. «Jahrelang musste ich dein Problem herumtragen. Heute gebe ich es dir zuruck», sagte er zu ihm. Der Pater bittet um Vergebung. Doch Furbringer lehnt ab. Heute scheint er, inzwischen Prasident von Espas, seinen Frieden gefunden zu haben. Zwei Jahre lang hat er eine Kunsttherapie absolviert, die viel bewirkt habe. Dennoch sagt Furbringer: «Sobald ich ins Grubeln komme, kocht wieder eine Wut hoch gegen ihn und die Kirche, die sich in der Frage der sexuellen Missbrauche derart schlecht anstellt.»

Heute setzt Furbringer alles daran, «ein wenig Licht in diese Dunkelheit zu bringen», wie er sagt. Opfern von sexuellem Missbrauch gibt er einen ahnlichen Rat auf den Weg wie Daniel Pittet und Jacques Nuoffer: «Man muss all die schrecklichen Erlebnisse aufarbeiten und mit jemandem daruber reden. Es ist schwer – aber es ist der erste Schritt zur Besserung. Und es ist nie zu spat.»

Ubersetzung aus dem Franzosischen: Silvan Kampfen

 

 

 

 

 




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