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"Wir Haben Die Tabuzone Noch Nicht Verlassen"

Deutsche Welle
March 17, 2017

http://www.dw.com/de/sexueller-missbrauch-wir-haben-die-tabuzone-noch-nicht-verlassen/a-37967303



Experten hatten auf einen Ruckgang der Zahlen gehofft, doch die reprasentative Studie der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitat Ulm zeigt das Gegenteil: So hatten im Jahr 2011 gut 12 Prozent der Befragten angegeben, als Kind sexuelle Gewalt erlebt zu haben. In einer neuen Umfrage berichten knapp 14 Prozent von sexuellem Missbrauch im Kindesalter. Bei den Frauen gab es einen Anstieg von 15,2 auf 18 Prozent, bei den Mannern blieb die Haufigkeit mit rund 9,5 Prozent etwa gleich. Die Forscher hatten ihre Fragen rund 2500 reprasentativ ausgewahlten Bundesburgern im Alter von 14 bis 94 Jahren gestellt. Im Interview mit der DW meint der Unabhangige Beauftragte der Bundesregierung fur Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rorig, bei den politischen Entscheidern sei die Brisanz des Themas immer noch nicht angekommen.

Deutsche Welle: Herr Rorig, hat Sie die Erhohung der Fallzahlen uberrascht?

Rorig: Nein, ich war nicht uberrascht, dass kein Ruckgang zu verzeichnen ist. Denn weder die polizeiliche Kriminalstatistik noch die Dunkelfeldforschung geben uns derzeit Hinweise auf einen solchen Ruckgang. Das Engagement fur den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt ist zwar starker geworden. Aber wir sind noch nicht so weit, dass wir einen flachendeckenden Schutz haben. Und weil wir nicht alle Handlungsmoglichkeiten nutzen, fuhrt das dazu, dass wir uns weiterhin auf diesem sehr hohen Plateau bewegen.

Johannes-Wilhelm Rorig: "Der volkswirtschaftliche Schaden sexueller Gewalt ist enorm.

Warum gibt es bisher keinen Durchbruch?

Wir mussen mehr als bisher in Pravention und auch in Intervention als in den Schutz investieren. Seit den Empfehlungen des Runden Tisches Kindesmissbrauch 2011 wissen wir, was den Schutz der Kinder und Jugendlichen verbessern wurde und welche Hilfen Kinder und Jugendliche dringend benotigen, die Missbrauch in der Familie oder im sozialen Umfeld erleiden. Aber diese Handlungsmoglichkeiten werden noch nicht genutzt und den Kindern geboten. Und da arbeiten wir sehr intensiv dran, beispielsweise mit unserer Initiative "Schule gegen sexuelle Gewalt". Wir haben ja eine Kooperation begrundet mit allen 16 Kultusministerinnen und -ministern, und damit wollen wir erreichen, dass Kinder schneller aus ihrem Missbrauchsdilemma herauskommen, das sie im familiaren Bereich erleiden. Aber wir sind da, leider, sieben Jahre nach dem gro?en Missbrauchsskandal von 2010 immer noch am Anfang.

Was musste die Politik tun, um Kinder und Jugendliche besser zu schutzen?

Wir brauchen bessere Rahmenbedingungen, und zwar solche, die auf Dauer angelegt sind. Viele Projekte, die wir durchfuhren, sind nur befristet. Zum Beispiel ist meine Stelle nur befristet, und die Arbeit der Aufarbeitungskommission ist von der Politik auch nur befristet vorgesehen. Der sexuelle Kindesmissbrauch lasst sich aber nicht durch kurzfristige Ma?nahmen eindammen. Es braucht einen langen Atem. Um wirklich mit voller Kraft gegen sexuellen Missbrauch zu arbeiten, um etwa die Taterstrategien zu durchkreuzen, muss die Politik mehr Finanzmittel zur Verfugung stellen. Das hei?t zum Beispiel, und das fordere ich immer wieder, dass die Vergabe von offentlichen Fordergeldern, wie etwa die Forderung des Leistungs- und Spitzensports, daran geknupft wird, dass es in den entsprechenden Einrichtungen Schutzma?nahmen gegen Kindesmissbrauch gibt.

Woran liegt es, dass politisch noch nicht das getan wird, was getan werden musste?

Das Thema des sexuellen Kindesmissbrauchs ist sehr verstorend, und das setzt Abwehrreflexe frei. Viele Verantwortliche in der Politik denken, es sei schon genug getan worden, man hatte ja einen Missbrauchsbeauftragten und das wurde reichen. Es reicht aber insgesamt nicht. Der Kindesmissbrauch ist ein gro?es, gesamtgesellschaftliches Problem: Wenn man sich vorstellt, dass sieben Prozent der Kinder und Jugendlichen wahrend ihres Aufwachsens mit sexueller Gewalt konfrontiert werden und wenn man sich die schweren und schwersten Folgen, die manchmal ein Leben lang anhalten, vor Augen fuhrt, dann erkennt man, dass es eine gro?e Differenz zwischen politischen Sonntagsreden und politischem Tun gibt.

Plakat-Kampagne gegen Kindesmissbrauch

Wir mussen die kinderschutzfernen Politikerinnen und Politiker erreichen, die fur die Bereitstellung von Finanzmitteln zustandig sind. Dafur kampfe ich, und ich hoffe, dass in den Wahlprogrammen der Bundesparteien, die sich ja derzeit auf die Bundestagswahl vorbereiten, konkrete Ma?nahmen aufgezeigt werden, wie wir den Schutz von Kindern und Jugendlichen dauerhaft verbessern konnen. Dabei setze ich sehr darauf, dass wir in unserem neuen Bundesprasidenten Frank Walter Steinmeier als unuberhorbaren Unterstutzer fur unser Thema bekommen. Wir brauchen bekannte und herausragende Personlichkeiten, die den Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch unterstutzen.

Welche Aufmerksamkeit erfahrt das Thema Missbrauch in der Gesellschaft?

Die Sensibilitat ist seit dem Missbrauchsskandal von 2010 schon gestiegen. Aber es wird noch nicht mit der notwendigen Konsequenz reagiert. Ein Beispiel: Wenn ein Schulleiter sagt, "Wir wollen auch bei uns Schutzma?nahmen gegen sexuellen Kindesmissbrauch einfuhren", dann hat er in vielen Fallen mit Widerstanden zu rechnen, etwa im Lehrerkollegium, das sagt, "Ach, das ist doch gar nicht unser Thema, und warum wollen wir uns denn damit beschaftigen, wir haben doch noch gar keinen Fall gehabt". Auch von den Eltern wird ein solches Vorhaben oft missverstanden, namlich in dem Sinne, dass eine Schule, die etwas fur den Schutz von Kindern und Jugendlichen tun will, dann unter Generalverdacht gestellt wird. Wir haben die Tabuzone bei dem Thema in Deutschland also noch nicht verlassen.

Welche Folgen zieht sexueller Missbrauch nach sich?

Generell lost ein Missbrauch psychologische Erkrankungen in der ganzen Bandbreite aus: Die Betroffenen leiden etwa unter sexuellen Problemen oder unter Problemen im Beziehungsbereich. Manche Menschen ziehen sich komplett aus der Gesellschaft zuruck, andere werden alkohol- oder drogenkrank. Kinder und Jugendliche konnen aggressiv werden, auch Magersucht oder Fettleibigkeit konnen durch den Missbrauch begrundet sein. Die Folgeerscheinungen fur die Betroffenen sind gravierend, bis hin zur Suizidgefahr.

Aber auch volkswirtschaftlich sind die Folgen immens. Wir liegen hier bei den Trauma-Folgekosten jedes Jahr im Milliardenbereich, es gibt eine Studie, die diese Kosten auf zehn Milliarden pro Jahr beziffert. Das sind aber bei weitem nicht allein die Behandlungskosten, sondern auch die Kosten, die etwa dadurch entstehen, dass die Betroffenen, bedingt durch ihr Trauma, nicht arbeiten konnen. Der Kostenberg fur die Sozialversicherungen, also die Renten- und Krankenversicherungen oder auch fur die Opferentschadigung, ist enorm. Deswegen fordere ich, dass Politik adaquat reagieren muss. Wenn mich Politiker fragen, "Warum wollen Sie denn noch mehr erreichen?", dann merke ich, dass sie den Zusammenhang zwischen dem, was den Kindern an Leid angetan wird, und den Folgekosten fur die Sozialsysteme einfach noch nicht zusammenbringen. Tatsache aber ist: Neben dem schrecklichen menschlichen Leid entsteht durch sexuellen Missbrauch eben auch ein gro?er volkswirtschaftlicher Schaden.

Johannes-Wilhelm Rorig ist seit Dezember 2011 der Unabhangige Beauftragte fur Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Das Amt wurde 2010 als Reaktion auf das Bekanntwerden des Ausma?es des sexuellen Kindesmissbrauchs unter anderem in schulischen und kirchlichen Einrichtungen vom Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch eingerichtet. Der Beauftragte ist nicht weisungsgebunden.

 

 

 

 

 




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