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»kein Platz Mehr Unterm Teppich«

By Lissy Kaufmann
Juedische Allgemeine
May 18, 2017

http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/28598

»Ich wusste nicht, dass ich sechs Jahre lang vergewaltigt wurde«: Lea fluchtete vor vier Jahren ein Frauenhaus fur ultraorthodoxe und religiose Frauen.

Erst als ihr funfjahriger Sohn versuchte, vom Balkon zu springen, um sich das Leben zu nehmen, wurde Lea klar, dass sie nicht langer schweigen konnte. Sie musste handeln, sie musste schnell weg von hier, aus ihrem Zuhause, um sich und die vier Kinder in Sicherheit zu bringen.

Mehr als sechs Jahre war Lea, damals 25 Jahre alt, verheiratet. Mehr als sechs Jahre lang hat ihr Mann sie, wie sie sagt, emotional missbraucht, geschlagen und zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Ein Nein habe er nie akzeptiert. »Ich wusste nicht, dass ich sechs Jahre lang vergewaltigt wurde. Ich wusste nicht, dass es fur Frauen schon sein kann, ja schon sein muss. Ich dachte, ich mache das, um Kinder zu kriegen«, sagt sie heute.

Uberhaupt wollte Lea, eine ultraorthodoxe Frau, alles tun, damit der Haussegen nicht schiefhangt. »Shalom bayit«, hei?t es im Hebraischen, also eine harmonische Stimmung zu Hause, eine gute Beziehung zwischen Mann und Frau – dafur war sie als Mutter und Ehefrau doch schlie?lich verantwortlich. Blo? niemanden wissen lassen, dass etwas nicht stimmte. Scheidung oder zur Polizei zu gehen – an so etwas hatte Lea noch nicht einmal gedacht.

FRAUENHAUS Heute, gut viereinhalb Jahre spater, ist Lea an den Ort ihrer Rettung zuruckkehrt, um ihre Geschichte zu erzahlen: zu Bat Melech, einem Frauenhaus fur ultraorthodoxe und religiose Frauen in Israel, die von ihren Ehemannern missbraucht wurden, korperlich und psychisch.

In einem normalen Haus in einer unscheinbaren Wohnsiedlung in Jerusalem – die wenigsten Nachbarn wissen Bescheid – leben heute sechs Frauen und ihre Kinder. Das Haus ist videouberwacht, die Turen verschlossen, um die Frauen vor unerwunschten Besuchern ebenso zu schutzen wie auch vor wutenden Ehemannern.

Im Vorraum im Erdgeschoss spielen zwei Kinder, einen Stock weiter oben bereiten die Frauen das Mittagessen zu. Es soll wie ein Zuhause mit Privatsphare sein. So hat jede Familie ein eigenes Zimmer mit Bad. Die Kuche aber wird geteilt, denn die Gemeinschaft ist wichtig. Sie soll die Frauen starken, auffangen, ihnen Mut machen, sich wieder in die Welt da drau?en zu trauen, ein neues Leben zu beginnen.

WORTE Hierhin ist Lea damals nach dem Selbstmordversuch ihres altesten Sohnes im Taxi gefluchtet – zusammen mit den Kindern. Damals war sie eine Geschundene, die dachte, selbst an allem schuld zu sein, die kein Selbstwertgefuhl mehr hatte und keine Worte fur das, was ihr widerfahren ist.

Wie auch, wenn doch das besonders streng orthodoxe Judentum keine sexuelle Aufklarung vorsieht? Wenn sexuelle Worte tabu sind und selbst Begriffe wie »schwanger« mit »in anderen Umstanden« umschrieben werden?

Heute ist Lea noch immer religios, sie tragt einen Rock, ein langarmeliges gestreiftes Shirt und eine Perucke mit braunem Haar, das ihr echtes Haar bedeckt, so wie es fur religiose Frauen ublich ist. Doch als streng religios – chassidisch – wie fruher will sie sich heute nicht mehr definieren. Lea hat Worte gefunden, spricht heute ganz offen von Sex, Orgasmus und Vergewaltigung. Und sie spricht so selbstbewusst und laut, dass der ganze Raum zu beben scheint – ein Buroraum im Erdgeschoss des Frauenhauses.

FAMILIENEHRE Auch wenn es fur jedes Opfer sexueller, psychischer und physischer Gewalt schwer ist, daruber zu sprechen, Hilfe zu suchen und aus der Situation auszubrechen – fur ultraorthodoxe Frauen ist es das besonders. »Schmutzige Wasche hangt man nicht nach drau?en«, erklart Lea.

Vor allem den Kindern zuliebe, denn die sollen schlie?lich spater mittels eines Schidduchs, also einer religiosen Partnervermittlung, einen Partner finden. So ist es Tradition im ultraorthodoxen Judentum. Es geht dabei auch um Familienehre – Schwiegersohne und -tochter sollen aus gutem Hause stammen. Mit einem gewalttatigen Vater ist das unmoglich.

Und so kommt es, dass Missbrauch in ultraorthodoxen Kreisen immer wieder verschwiegen wird. So nahm die israelische Polizei vor einigen Wochen 22 ultraorthodoxe Manner in den Stadten Jerusalem, Beit Schemesch, Beitar Illit und Bnei Brak fest, die in den vergangenen zwei Jahren Frauen und Kinder sexuell missbraucht haben sollen.

Innerhalb der Gemeinschaft waren die Falle teilweise bekannt: Rabbiner erlaubten es Einzelpersonen, Daten und Informationen zu sammeln – ohne jedoch die Polizei einzuschalten. Als die Polizei die Manner dann verhaftete, wurde sie attackiert und mit Steinen beworfen. Die Scheiben zweier Polizeiautos in Jerusalem gingen zu Bruch.

SCHWEIGEN »Man fragt sich schon, wie es sein kann, dass manche versuchen, die Tater zu schutzen«, sagt Noach Korman. Er ist selbst religios und hat vor 16 Jahren das Frauenhaus Bat Melech gegrundet. Doch er wei? auch: Die Angst unter den Charedim ist gro?, Probleme nach au?en zu tragen.

Und so meinen manche Rabbiner, sexuellen Missbrauch intern klaren zu konnen, indem Tater aus der Gemeinschaft verbannt und in eine andere Stadt geschickt werden. Aus den Augen, aus dem Sinn, als ob Sexualstraftater in einer neuen Stadt plotzlich zu neuen, geheilten Menschen werden, wundert sich Korman. Hauptsache, in der eigenen Gemeinschaft bleibe »alles ruhig und sittlich«.

Doch immer ofter wird das Schweigen gebrochen. »Ein Rabbi hat einmal gesagt: ›Wir haben so lange alles unter den Teppich gekehrt, da ist jetzt kein Platz mehr. Jetzt kommt alles hoch‹«, erzahlt Noach Korman. Das Internet, das auch in ultraorthodoxen Kreisen immer haufiger verwendet wird, ist mit ein Grund, dass sich die einst so geschlossenen Gemeinschaften nach und nach offnen, Infos suchen und Hilfe finden, meint er. »So werden auch immer mehr Frauen auf Bat Melech aufmerksam«, sagt Korman.

AUSWIRKUNGEN Diesen Veranderungsprozess kennt kaum eine so gut wie Tzipora Gutman. Die 44-Jahrige ist Psychologin und engagiert sich fur soziale Belange in der charedischen Welt in Israel. In Bnei Brak hat sie das Adi Center gegrundet, ein Zentrum fur gefahrdete Madchen, die im normalen Schulsystem nicht mehr zurechtkommen und dort neben speziellem Schulunterricht auch therapeutische Hilfe erhalten.

»Durch meine Arbeit bin ich mit Fallen von sexuellem Missbrauch in Kontakt gekommen«, erzahlt Gutman, die selbst in der charedischen Gemeinschaft aufwuchs. Fur sie tat sich damit eine neue, schreckliche Welt auf, die sie vorher nicht fur moglich gehalten hatte – eben weil lange Zeit nicht daruber geredet wurde. Vielen anderen Charedim gehe es laut ihrer Erfahrung ahnlich.

Das Wort, das in der charedischen Gemeinschaft fur sexuellen Missbrauch verwendet wird, lautet »unsittliche Verletzung«, erklart die ultraorthodoxe Aktivistin. »Viele wussten lange Zeit nicht, was das uberhaupt bedeutet: sexueller Missbrauch. Man dachte, das ist eben etwas Unschones«, sagt sie. Auch vielen Rabbinern sei nicht klar, was es fur Menschen hei?t, wenn sie missbraucht werden. »Dass sie sterben, auch wenn sie leben. Sie sterben innerlich – Missbrauch ist wie Mord.«

STUDIUM Es ist das Wissen aus der sakularen Welt, das nun immer starker in die ultraorthodoxe Welt dringe, meint Gutman. »Immer mehr Charedim studieren an Hochschulen und Universitaten Sozialarbeit, Medizin oder Psychologie. Und dieses Wissen bringen sie in die charedische Welt.« Mittlerweile hatten immer mehr Rabbiner die Auswirkungen von sexuellem Missbrauch verstanden und ihren Kurs geandert. »Immer mehr von ihnen kooperieren nun mit der Polizei und den staatlichen Behorden«, berichtet Tzipora Gutman.

Doch gesellschaftliche Prozesse wie dieser brauchten Zeit, nicht Wochen, sondern Jahre. Denn die Angst vor der Zusammenarbeit mit der Polizei bleibt. Nicht nur, weil damit der Name der Familie in den Schmutz gezogen und der Schidduch der Kinder gefahrdet wird: Auch die Polizeiarbeit selbst ist fur viele unheimlich und befremdlich.

»Wir haben keine sexuellen Begriffe, unsere Sprache ist eine andere, eine sanftere. Man kann also nicht einfach mit dem Polizeiauto vorfahren und die Kinder befragen«, erklart Gutman. Die israelische Polizei hat das Problem bereits erkannt und arbeitet mit speziellen Ermittlern zusammen, die selbst charedisch sind und wissen, wie sie mit den Opfern umgehen sollen.

TREFFEN Tzipora Gutman und einer ihrer Kollegen versuchen nun, die staatlichen Behorden und die Rabbiner an einen Tisch zu bringen. Die Rabbiner sind in der ultraorthodoxen Welt Ansprechpartner Nummer eins fur alles – bei jeglichen Problemen und Fragen. Ohne einen Rabbiner wird selten etwas entschieden. Darum ist der Bruckenschlag zu ihnen so wichtig.

Vor einem Jahr hat Tzipora Gutman damit begonnen. Sie hat mit Rabbinern gesprochen und sie mit Vertretern der Polizei zu Treffen bewegt. Zusammen sollen sie einen Weg finden, sexuellen Missbrauch aufzudecken. »Brucken baut man nur ganz langsam, aber wir haben bereits vereinzelt Stufen geschaffen, sodass man schon zur anderen Seite springen kann«, sagt Gutman.

INFOBUCH Um auch die charedische Seite darauf vorzubereiten, das Wissen uber sexuellen Missbrauch und seine Folgen weiter zu verbreiten, arbeiten sie und ein Kollege an einem Infobuch, das in der Sprache der Ultraorthodoxen erklaren soll, worum es geht, was aus religioser Sicht getan werden muss und inwiefern die Zusammenarbeit mit den staatlichen Behorden erlaubt ist. »Jeder Rabbiner wird eines bekommen«, versichert sie. Allein, dass diese Falle nun bekannt werden, ist fur Tzipora Gutman ein gutes Zeichen, dass sich die Veranderung nicht mehr aufhalten lasst.

»Man redet nun daruber, und viele Charedim sind unglaublich wutend auf die Manner. Es sind ja unsere Kinder, denen sie etwas antun! In den Internetforen der Charedim wird diskutiert und geschimpft, es gibt einen richtigen Aufschrei. Und wir haben mittlerweile viele Hilfszentren.« Allein in Bnei Brak gebe es mittlerweile zwei Zentren. Eines fur Minderjahrige, eines fur Frauen uber 18. »Dort konnen sie anklopfen und Hilfe bekommen. Das gab es fruher nicht.«

Auch die 30-jahrige Lea hat all das, was sie einst unter den Teppich gekehrt und verschwiegen hat, wieder hervorgeholt – nicht nur fur sich selbst, sondern auch fur die anderen Frauen. Sie schreibt auf Facebook, klagt an und macht anderen Betroffenen Mut. Und sie erzahlt bei Vortragen, was ihr widerfahren ist – schonungslos, deutlich und so laut, dass keiner mehr weghoren kann.

 

 

 

 

 




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