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Sozial Untauglich, Sexuell Missbraucht

By Jorg Krummenacher
Neue Zurcher Zeitung
May 18, 2017

https://www.nzz.ch/schweiz/buendner-studie-zu-fuersorgerischen-zwangsmassnahmen-sozial-untauglich-sexuell-missbraucht-ld.1294261

In jedem zehnten Bundner Kinderheim gab es Falle von sexuellem Missbrauch oder sonstiger Gewalt gegen Kinder. Dies belegt eine Studie. Graubunden spielt bei Zwangsmassnahmen eine Sonderrolle.

Insassen der Arbeitsanstalt Realta um 1950 bei der Kartoffellese. (Bild: Staatsarchiv Graubunden / Romedo Guler)

Rund 150 staatliche und private Kinderheime gab es im Zeitraum zwischen den 1950er und den 1980er Jahren im Kanton Graubunden – eine im nationalen Vergleich hohe Zahl. Dass es in manchen Heimen der Schweiz wenig idyllisch zu und her ging, ist im Lauf der vergangenen Jahre bereits mehrfach ans Licht gekommen. Graubunden stellt dabei keine Ausnahme dar, wie nun eine 2015 von der Kantonsregierung in Auftrag gegebene Studie belegt. Das Autorenteam um Tanja Rietmann vom Zentrum fur Geschlechterforschung der Universitat Bern stellt fest, dass massive Schlage, Essensentzug, Einsperren oder Herabwurdigen gangige Praktiken waren. Zudem liessen sich fur knapp zehn Prozent der Bundner Heime Falle von sexuellem Missbrauch oder sonstiger Gewaltanwendung gegenuber Kindern in den Akten nachweisen.

Etwa 1500 Zwangsversorgte

Die Autorin geht dabei von einer hohen Dunkelziffer aus, da vieles in den Akten nicht auftauche. Das gilt generell fur die Erziehungs- und Strafpraktiken in Heimen und Pflegefamilien, ebenso fur die administrativen Versorgungen, wie sie im Bundnerland bis 1981 moglich waren. Um ein differenziertes Bild zu gewinnen, waren weiterfuhrende Forschungen notig. Allein: Weil es an Aufsicht und Dokumentation mangelte, wird vieles im Dunkeln bleiben. Fur die Studie wurde zusammengetragen, was an Material im Kanton und in den Gemeinden auffindbar war.

Bundner «Kinder der Landstrasse»

Eine besondere Rolle spielten Bundner Kinder auch im Rahmen des Hilfswerks «fur die Kinder der Landstrasse»: Zwischen 1926 und 1973 steckte die Stiftung Pro Juventute dabei 586 Kinder und Jugendliche von Fahrenden in Anstalten. Dort sollten sie zu «rechten Menschen» geformt, ihre «Vagantitat» ausgetrieben werden. Die Kindswegnahmen sind heute breit dokumentiert. Sie erfolgten in Zusammenarbeit mit lokalen Vormundschaftsbehorden und wurden finanziell von Bund, Kantonen und Gemeinden getragen. Die Halfte dieser Kinder, genau 294, stammte aus Graubunden. Kein anderer Kanton wies eine nur annahernd so hohe Zahl auf. Die Behorden schickten die Kinder und Jugendlichen dabei von Pflegeplatz zu Pflegeplatz, um den Kontakt zu ihren Familien zu unterbinden. Die meisten Bundner «Kinder der Landstrasse» gelangten so in die Kantone Aargau, Thurgau und Solothurn.

Ebenso wie die Fremdplacierung von Kindern wurden in der Bundner Studie die fursorgerischen Zwangsmassnahmen bei jenen Erwachsenen untersucht, die als «liederlich», «arbeitsscheu» oder «gefahrdet» eingestuft wurden. Die meisten von ihnen landeten in der Arbeitsanstalt Realta, 20 Kilometer von Chur entfernt im Domleschg. Fur die Zeitspanne von 1855 bis 1918 geht die Studie von 400 bis 600 administrativ Versorgten aus, fur den Zeitraum von 1919 bis 1981 von weiteren 750 bis 1000. Insgesamt durften gegen 1500 Personen in die Anstalt eingewiesen worden sein, davon ein Viertel Frauen. Zum Vergleich: Schweizweit wird mit mindestens 50 000 bis 60 000 administrativ Versorgten gerechnet.

«Etwas mittelalterlich»

Die ausserst luckenhaften oder teilweise ganzlich fehlenden Berichte uber Anstaltseinweisungen in Graubunden sind Ausdruck fur die damals vorherrschende Haltung gegenuber den Betroffenen. Das sticht etwa im Vergleich mit den ausfuhrlichen, akkurat gefuhrten Rapporten im Bereich der Landwirtschaft ins Auge: Der Viehbestand war den Behorden mehr Aufwand wert als Zwangsversorgte oder Fremdplacierte. Diese mussen sich bisweilen als Rechtlose gefuhlt haben, beliessen die wenigen gesetzlichen Vorschriften den Behorden doch grossen Ermessensspielraum bei ihren Versorgungsentscheiden. So konnte in Graubunden, im Gegensatz zu anderen Kantonen, in eine Arbeitsanstalt eingewiesen werden, auch wer nicht fursorgebedurftig war.

1840 hatte der Kanton mit der Zwangsarbeitsanstalt Furstenau eine der ersten derartigen Einrichtungen in der Schweiz in Betrieb genommen, die 1855 in die nahe gelegene Arbeitsanstalt Realta ubersiedelte und bis Mitte der 1970er Jahre bestehen blieb. Bis um 1930 mussten einzelne Insassen bei der Arbeit Fussketten tragen; sie seien «schon so weit heruntergekommen», lautete die Rechtfertigung, dass ihnen dies nichts mehr ausmache. 1931 befand dann selbst Anstaltsdirektor Fritz Tuffli, dass die Ketten «etwas abstossend» seien und «direkt mittelalterlich» anmuteten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich die Grundhaltung zu andern, und allmahlich setzte eine kritische Reflexion fursorgerischer Zwangsmassnahmen ein. Ab Mitte der 1950er Jahre kamen zunehmend Missbrauchsfalle ans Licht, eine Reihe von Heimen wurde geschlossen.

Im historischen Kontext

Die Erkenntnisse der Bundner Studie fliessen nun in laufende Untersuchungen des Bundes ein: in die Arbeit der Unabhangigen Expertenkommission zu Administrativen Versorgungen wie auch das Nationalfondsprojekt zu «Fursorge und Zwang». Keine Zahlen liegen aus Graubunden zu Zwangssterilisationen vor. Zudem fehlen Hinweise auf Tests mit nicht zugelassenen Medikamenten, wie sie an diversen Orten in der Schweiz vorgenommen wurden.

Die gesellschaftlichen Werte sind heute andere. Seit 2014 ist das Bundesgesetz uber die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen in Kraft, seit Anfang April 2017 auch das Bundesgesetz uber die Aufarbeitung der fursorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplacierungen. Das damalige Vorgehen der Behorden musse in den historischen Kontext gestellt werden, postuliert der Bundner Erziehungsdirektor Martin Jager im Vorwort der Studie. Erstaunt habe ihn dennoch, welch enormen Ermessensspielraum die Behorden gehabt und dennoch oft nicht einmal minimale Verfahrensvorschriften eingehalten hatten.

 

 

 

 

 




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