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„Ein Dreiklang aus Gewalt, Angst und Hilflosigkeit“

By Stefan Aigner
Regensburg Digital
July 18, 2017

http://www.regensburg-digital.de/ein-dreiklang-aus-gewalt-angst-und-hilflosigkeit/18072017/

Ulrich Weber stellte am Dienstag das Ergebnis seiner zweijährigen Arbeit vor.

Generalvikar Michael Fuchs: „Nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.“

[Lawyer Ulrich Weber has presented his final report on violence and abuse at the Regensburger Domspatzen. He found at least 547 victims. The former cathedral master Georg Ratzinger also bears responsibility for this.]

Rechtsanwalt Ulrich Weber hat seinen Abschlussbericht zu Gewalt und Missbrauch bei den Regensburger Domspatzen vorgelegt. Er geht von mindestens 547 Opfern aus. Verantwortung dafür trage auch der frühere Domkapellmeister Georg Ratzinger.

„Was also ist die Wahrheit? Ich glaube, dass es so viele Wahrheiten wie Domspatzen gibt und dass es vermessen wäre zu glauben, dass sich der erlebte Schrecken in der Anzahl von Schlägen und durchschnittlichen Penetrationen pro Schuljahr messen lässt. Das Böse zeichnet sich durch Qualität und Effizienz aus, nicht durch seine Quantität: Gewalt und Missbrauch waren über Jahrzehnte präsent, in der Erziehung der Domspatzen fest integriert, aber nicht jeder Schüler wurde Opfer eines sexuellen Übergriffes oder mit der Rute bearbeitet. Das war auch nicht nötig, um ein Regime des Schreckens zu errichten: Die Angst in den Herzen von Kindern manifestiert sich auch, wenn man Zeuge der Gewalttätigkeiten und Demütigungen anderer wird.“

 

Es ist nur eines von über 2.000 Zitaten, die Rechtsanwalt Ulrich Weber in seinen 440 Seiten starken Abschlussbericht zu Gewalt und Missbrauch an Einrichtungen der Regensburger Domspatzen einfließen ließ. Und seine erste Einschätzung – bei einem ersten Zwischenbericht war Weber von rund 700 Betroffenen ausgegangen – hat sich weitgehend bestätigt: Seit 1945 stufen Weber und seine Mitarbeiter 547 Opfer als „hoch plausibel“ ein, 500 von ihnen waren demnach Opfer körperlicher, 67 sexueller Gewalt. Angesichts einer Dunkelziffer habe er von seinen früheren Äußerungen nichts zurückzunehmen, so Weber.

Bis 1992 durchgängig Vorfälle körperlicher Gewalt

Der Schwerpunkt der körperlichen Gewalt liege in den 60er und 70er Jahren, wobei bis 1992 „durchgängig von Vorfällen körperlicher Gewalt berichtet wird.“

Als einen Hauptgrund für die Geschehnisse bezeichnet Weber, dass das gesamte Erziehungssystem auf den Erfolg des Chores ausgerichtet gewesen sei. Diesem Ziel seien sowohl schulische wie auch allgemeine Erziehungsziele untergeordnet worden. „Der Dreiklang aus Gewalt, Angst und Hilflosigkeit sollte dazu dienen, den Willen der Schüler zu brechen und ihnen Persönlichkeit und Individualität zu nehmen“, so Webers Formulierung. „Dies diente dem Erreichen von maximaler Disziplin und Leistungsfähigkeit für chorische Erfolge.“

Zusätzlich zu diesen allgemeinen habe es darüber hinaus individuelle Tatmotive gegeben. Insgesamt identifiziert der Bericht 49 Beschuldigte, neun von ihnen wurden sexuell übergriffig. Heraus ragt dabei unter anderem der langjährige Direktor der Domspatzen-Vorschule in Etterzhausen Johann Meier, zu dem es zahlreiche Schilderungen von körperlicher und sexueller Gewalt gibt, aber, so Weber: „An der Gewalt waren über die Bereiche Schule, Chor, Musikgymnasium und Internat hinweg sehr viele Angestellte aktiv beteiligt.“

„Zu allen Zeiten verboten und strafbar“

Dabei räumt Weber auch mit der Mär auf, dass solche Erziehungsmethoden allgemein üblich gewesen seien. „Die beschriebenen Vorfälle körperlicher Gewalt waren zu allen Zeiten im Berichtszeitraum mit wenigen Ausnahmen verboten und strafbar“, so sein deutliches Fazit.

Eine klare Mitverantwortung dafür sieht Weber unter anderem beim früheren Domkapellmeister Georg Ratzinger. Er habe über die körperliche (nicht die sexuelle) Gewalt Bescheid gewusst, habe aber weggeschaut und sei nicht eingeschritten. In der Gesamtschau spricht Weber von einer „Kultur des Schweigens“. Nahezu alle Verantwortungsträger bei den Domspatzen hätten zumindest ein „Halbwissen“ von den Vorfällen gehabt, jedoch wenig Interesse gezeigt. Der Schutz der Institution sei im Vordergrund gestanden, Opferschicksale seien ignoriert, Beschuldigte teilweise geschützt worden.

Fuchs: „Wir haben Fehler gemacht.“

Bei ersten Versuchen der Aufarbeitung 2010 trage der damalige Bischof Gerhard Ludwig Müller „eine klare Verantwortung für die strategischen, organisatorischen und kommunikativen Schwächen“. Solche Schwächen habe es auch bei der Personalbesetzung und der Verteilung von Verantwortlichkeiten gegeben. Mit einer näheren Betrachtung von Müllers Rolle hält sich der Bericht ansonsten zurück.

Eines betont Weber zum Abschluss: Bei den heutigen Domspatzen seien die Schwachstellen, die Gewaltanwendung erheblich begünstigten, behoben. Heute existiere dort eine zeitgemäße Pädagogik und es gebe zielgerichtete Präventionskonzepte.

Generalvikar Michael Fuchs, der unter Müller lange als Hauptverantwortlicher für die Aufarbeitung galt und unter anderem für demütigende Serienbriefe an Missbrauchsopfer verantwortlich zeichnet, räumt in einer ersten Stellungnahme wenig später ein, dass man Fehler gemacht, aber „immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt“ habe.

Es verwundert dabei kaum, dass Fuchs auch im Namen von Bischof Rudolf Voderholzer bei den Betroffenen dafür bedankt, dass man schließlich den nun vollzogenen Weg der Aufklärung habe gehen können. Tatsächlich wäre das ohne die Gesprächsbereitschaft der Gruppe um Michael Sieber, Peter Schmitt, Udo Kaiser, Peter Müller und Alexander Probst nicht möglich gewesen. Dass Fuchs auch, wie er sagt, glaubt auch für Kardinal Müller sprechen zu können, wenn er diesen Dank ausspricht, nimmt ihm von den anwesenden Betroffenen wohl kaum einer ab.

„Man muss verzeihen können.“

Kaiser, der bei den Domspatzen selbst Opfer von Gewalt und Missbrauch wurde, zeigte sich gegenüber regensburg-digital erleichtert und erfreut über die aktuellen Entwicklungen. „Ich werde immer Domspatz bleiben und mir ist es wichtig mit dem Haus befriedet zu sein“, so der 68jährige. „Früher habe ich schon das Kotzen bekommen, wenn ich die Domtürme von Weitem gesehen habe.“ Das sei mittlerweile anders. Man habe einen gemeinsamen Weg zur Aufarbeitung beschritten.

Erst vor wenigen Wochen sei er zu einer Diskussionsveranstaltung mit Schülern am Domspatzen-Gymnasium eingeladen gewesen. „Und ich war überrascht, wie gut informiert und interessiert sie waren.“ Auch frühere Veröffentlichungen auf den Internetseiten der Domspatzen hätten sich die Schüler entschuldigt. „Man muss lernen, zu verzeihen“, sagt Kaiser, der ungeachtet dessen hofft, dass die Rolle von Kardinal Müller bei der anfänglichen (Nicht-)Aufklärung im Rahmen der noch ausstehenden historischen Untersuchung noch „gebührend beleuchtet wird“.

 




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