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Buch Von Missbrauchsopfer: "Ich Werde Nicht Heulen"

Focus
July 19, 2017

http://www.focus.de/politik/deutschland/regensburger-domspatzen-buch-von-missbrauchsopfer-ich-werde-nicht-heulen_id_7368892.html

Innenansicht des Regensburger Doms (Archivbild)

Mindestens 547 Chorknaben der Regensburger Domspatzen sind Opfer von korperlicher oder sexueller Gewalt geworden. Das geht aus dem am Dienstag vorgelegten Abschlussbericht zum Missbrauchskandal bei dem weltberuhmten Chor hervor.

Zu den Missbrauchsopfern bei den Regensburger Domspatzen gehort auch Alexander Probst. Der Mann aus Dietfurt hat seine Leidensgeschichte im Internat des weltberuhmten Knabenchors aufgeschrieben. In dem Buch berichtet er uber den sexuellen Missbrauch, die Prugel, seine Angst vor Direktor, Lehrern und Prafekten. FOCUS Online veroffentlicht Passagen aus dem Werk. ("Von der Kirche missbraucht. Meine traumatische Kindheit bei den Regensburger Domspatzen und der furchtbare Skandal" von Alexander Probst mit Daniel Bachmann ist im Riva-Verlag erschienen und kostet 19,99 Euro.)

Auszug aus Kapitel: "Lieber Vati, ich glaube, ich bin der Bub, den Du Dir wunschst."

Prafekt Hansch hat alle Jacken mitgebracht. Mittlerweile haben sie alle ihre Nummern. Das war ein Riesendurcheinander in den ersten Tagen, weil sie von Anfang an nummeriert mitgebracht werden mussten, aber nicht alle Mutter der Aufforderung nachgekommen sind. Jetzt halt Prafekt Hansch eine der Jacken hoch. Mit lauter Stimme sagt er: „97.“ Ich schaue zu Boden, ich will es nicht sehen. Ich hore es laut klatschen, dann fangt 97 an zu heulen. Hansch schnauzt ihn an und wendet sich an alle.

Er beschimpft uns. Er sagt, dass unsere Eltern viel Geld ausgeben. Damit wir hier sein durfen, damit wir eingekleidet sind. Und was tun wir Haufen Dummkopfe? Lassen alles drau?en liegen! Seine Stimme uberschlagt sich. Ich verstehe ihn kaum, als er „439“ brullt. „439“, wiederholt er, auf einmal leiser. „Ich sag’s nicht noch einmal.“ Ich trete vor ihn. Er halt meine Jacke in der Hand. „Gehort die dir?“ Ich nicke. Im selben Augenblick haut er mir kraftig eine runter. Es tut hollisch weh und mein Gesicht fangt an zu brennen.

"Mal sehen, ob du es lernst“

Ich kenne das nicht, denn mein Vater hat uns nie geschlagen. Das brauchte er nicht, wir haben auch so gefolgt. Die Stimme von Prafekt Hansch bleibt immer noch leise. „Es hei?t, jawohl, Herr Prafekt.“ Ich starre ihn an. Dann nicke ich. Das habe ich verstanden. Es hei?t, jawohl, Herr Prafekt. Der Gedanke ist noch nicht richtig durch meinen Kopf, da schlagt er wieder zu. Dieses Mal haut es mich von den Beinen. Als ich mich aufrapple, bekomme ich noch eine, dieses Mal auf die andere Seite. „Jawohl, Herr Prafekt“, sagt Hansch. „Mal sehen, ob du es lernst.“

Mir schie?en die Tranen in die Augen. 97 hat geheult und ich vernehme noch immer seine Schluchzer. Kurt, der Bettpisser, heult auch jedes Mal, wenn er geschlagen wird. Ich werde das nicht tun. Ich kampfe die Tranen zuruck, in meinem Kopf ist nur noch ein Gedanke: Ich. Werde. Nicht. Heulen! Auch der nachste Schlag wirft mich zu Boden. In meinem Kopf fangt es wie verruckt an zu pochen. Ich blinzle hoch und sehe Prafekt Hansch, wie er sich uber mich beugt. „Jawohl, Herr Prafekt“, sagt er. Obwohl in meinem Kopf ein ganzer Bienenschwarm unterwegs ist, kapiere ich endlich.

Im Video: Bei Papst Franziskus gilt: "Wer nicht seiner Linie folgt, der fliegt"

„Jawohl, Herr Prafekt“, presse ich hervor. „Steh auf“, antwortet er. „Nimm deine Jacke und geh zuruck in die Reihe. Wegen dir mussen alle anderen aufs Fruhstuck warten.“ Mir ist schwindelig, als ich auf den Beinen stehe. Ich nehme meine Jacke und schwore mir, sie nie wieder zu vergessen. Ich hore noch, wie Prafekt Hansch sagt, auf mich werde er von heute an ein besonderes Auge werfen. Dann merke ich, wie die Jungs neben mir ein Stuckchen von mir abrucken, als ich in die Reihe trete, als hatte ich die Kratze. „158“, brullt Prafekt Hansch, nun wieder mit gewohnt lauter Stimme. „Vortreten.“

"Ich werde niemals flennen"

Es liegt nicht nur an mir, dass uns heute kaum mehr Zeit zum Fruhstucken bleibt. Alle Jacken finden ihren Besitzer wieder und jeder bekommt seinen Satz Ohrfeigen ab. Ich bin der Einzige, der nicht flennt, aber das macht mich in keinster Weise stolz. Aber es ist ein Gedanke, der sich in mir festfrisst. Ich werde niemals flennen, egal, was passiert. Ich werde nicht heulen. Nein! Niemals! Nie!

"Von der Kirche missbraucht": Das Buch von Alexander Probst mit Daniel Bachmann

Als es am darauffolgenden Sonntag wieder darum geht, einen Brief zu schreiben, bin ich schon viel erfahrener. Ich muss nicht mehr gro? daruber nachdenken, was ich schreibe. Das hubsche Briefpapier ist mir egal. Ein Kind guckt aus einer Blume, na und? Ein Schmetterling breitet daruber seine Flugel aus. Pipikram! Nein, an Pipikram sollte ich nicht denken, denn dann fallt mir gleich Nummer 370 ein, der wieder mit einem vollgepissten Betttuch uberm Kopf in der Reihe stand.

Einer der Viertklassler hat ihm ein Bein gestellt, und weil er ja nichts sehen kann unter seinem Tuch, hat es ihn voll hingelegt. Wir haben gelacht, aber er hat geheult. Dabei war mir gar nicht nach Lachen zumute. Dass Prafekt Hansch angekundigt hat, ein Auge auf mich zu werfen, macht mir Angst. Vielleicht ist es doch gut, dass Mami immer wieder hier rumscharwenzelt und auch ein Auge wirft, aber auf Direktor Meier. Und er auf sie. Es ist zwar weiterhin komisch, sie zu sehen und ihr nichts davon zu sagen, was gerade wieder passiert ist, aber irgendwie tut sie auch so, als ob ich Luft bin. So kommt es mir zumindest vor. Und Luft kann man doch nicht sehen, oder?

"Kleine Schlage auf den Hinterkopf erhohen das Denkvermogen“

Nur wenn im Sommer die Sonne reinscheint, dann sehe ich manchmal … Ich habe nicht bemerkt, dass Prafekt Hansch hinter mir steht. Er hat wieder seine leise Stimme eingeschaltet, vor der wir uns mehr furchten als vor seiner Brullstimme. „Nicht traumen. Schreiben“, sagt er. Im nachsten Augenblick schlagt er mir mit dem Knochel auf den Kopf. Es muss ein Knochel sein, es ist furchtbar hart und tut furchtbar weh. Ich hasse mich dafur, dass mir sofort wieder die Tranen in die Augen schie?en, aber ich werde nicht weinen. Nein! Niemals! Nie! „Kleine Schlage auf den Hinterkopf erhohen das Denkvermogen“, sagt Prafekt Hansch. „Wenn ich das nachste Mal vorbeikomme, ist der Brief fertig.“

Eine Sache, die uns Mut macht

Im Kampf gegen Kindesmissbrauch engagieren sich in Deutschland viele gemeinnutzige Organisationen. Eine von ihnen ist der Verein „Weisser Ring“, der sich dem Opferschutz verschrieben hat. Unabhangig von Geschlecht, Alter, Religion, Staatsangehorigkeit und politischer Uberzeugung erhalten hier Kriminalitatsopfer direkte Hilfe. Zu diesem Zweck hat der Verein ein deutschlandweites Netz von mehr als 3000 ehrenamtlichen Opferhelferinnen und Opferhelfern in 420 Au?enstellen aufgebaut. Weitere Informationen zur Arbeit des „Weissen Rings“ finden Sie hier.

Er geht weiter. Ich wische mir uber die Augen, damit nicht doch noch eine Trane auf das Papier tropft und die Tinte verschmiert. Ich schreibe: „Es geht mir gut und es gefallt mir. Ich habe viele Freunde … Mir geht es gut in der Schule … Ich passe gut auf … Das ist alles, was ich sagen wollte.“ Das ist nicht alles, was ich sagen wollte, und deshalb frage ich noch nach ein paar Kindern aus der Nachbarschaft und erzahle, dass mein Klavierunterricht noch nicht begonnen hat. Uber den Satz argere ich mich, weil er Prafekt Hansch vielleicht nicht gefallt.

Aber der Klavierunterricht hat wirklich noch nicht begonnen und viel gesungen wurde bisher auch nicht. Geweint wurde eindeutig mehr, aber das will ich nicht schreiben. Bald wird das Briefeschreiben zur Routine. Sonntag fur Sonntag setzen wir uns hin, greifen zu Papier und Fuller und schreiben unseren Eltern. Ich schreibe: „Liebe Mami und lieber Vati, sagt Michi einen schonen Gru?.“ Oder: „Bei den Domspatzen ist das Essen sehr gut.“ Oder: „Bitte, liebe Mami, schicke mir meine Badehose wieder.“ Die hat sie namlich mitgenommen und nicht wiedergebracht. Doch „bring sie wieder“ will ich lieber nicht schreiben.

Von Mal zu Mal werden meine Briefe kurzer

Bald kann ich auch Erfolge vermelden, wie von Prafekt Hansch gewunscht: „In dieser Rechenprobe hatte ich wieder einen Einser. „ Und naturlich: „Mir geht es gut in der Schule.“ Dieser Satz sollte in jedem Brief stehen, das wird uns unmissverstandlich klargemacht, wenn’s sein muss, auch mit den Knocheln der Faust. Dann schreibe ich Satze wie: „Hoffentlich geht es Vati auf den Baustellen gut!“ Und: „Ich danke Dir fur die Vorwurfe, denn ich wei?, dass Du es gut mit mir meinst.“

Von Mal zu Mal werden meine Briefe kurzer, dafur wechsle ich ab zwischen „Mir geht es gut“ und „Mir geht es sehr gut“. „Hat Kizia wieder mit anderen Katzen gerauft? „, frage ich. Die Woche uber habe ich nicht an meine Katze gedacht, aber jetzt, wo wir uns wieder etwas aus den Fingern saugen mussen, fallt sie mir Gott sei Dank ein. Einmal berichte ich Mami, dass ich auch einen Brief an Mutti in der Schweiz schreiben werde.

Es ist mir, als musste ich mich dafur rechtfertigen. Dann schreibe ich, dass ich der beste Leser in der Klasse bin. Ich erwahne mit keinem Wort, unter welchen Umstanden ich mir diese Auszeichnung erworben habe, obwohl ich eigentlich stolz darauf bin. Denn ich habe eine Moglichkeit ausgeknobelt, um ein paar weniger Schlage zu kriegen. Musste ich Vati nicht davon berichten? Schlie?lich ist das doch auch eine Leistung. Aber das geht ja nicht, weil Prafekt Hansch das niemals dulden wurde. Schlie?lich hat er auch damit zu tun, klar doch, er hat immer damit zu tun.

 

 

 

 

 




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