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Vollkommene Gemeinschaft ?

Katholisch
July 20, 2017

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Der Untersuchungsbericht zum korperlichen und sexuellen Missbrauch bei den Regensburger Domspatzen ist eine erschreckende Lekture: Auf uber 400 Seiten wird schonungslos deutlich dokumentiert, wie Schuler uber Jahrzehnte hinweg geschlagen, missbraucht, entwurdigt wurden. Versuche, die Missstande zu benennen, wurden uber Jahre ignoriert oder diffamiert. Der Schutz des Rufs der Institution stand uber dem Schutz der Schutzbefohlenen. Das Verhaltnis von Tatern und Opfern wurde geradezu umgekehrt: die heilige Institution als Opfer von Nestbeschmutzern.

Der Umgang mit Missbrauch in den eigenen Reihen ist nicht nur eine rechtliche Frage – er ist auch eine Frage nach den Bedingungen, unter denen Missbrauch in der Kirche geschehen kann und gedeckt wird. Letztlich ist es damit eine Frage der Ekklesiologie, der Lehre von der Gestalt der Kirche.

Alles blo? eine Medienkampagne

Die Ansprache Kardinal Angelo Sodanos auf dem Petersplatz im April 2010 war ein deutliches Beispiel fur dieses Missverhaltnis, das nicht nur in Regensburg herrschte. Zurecht dominierte das Offenbarwerden von sexuellem Missbrauch in der Kirche die Schlagzeilen, fur den Kardinal war das aber "unbedeutendes Geschwatz dieser Tage". Im selben Jahr verurteile der damalige Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Muller in einem Hirtenwort die Taten und sprach den Opfern sein Mitgefuhl aus, beklagte aber gleichzeitig "mediale Angriffe": "Ein Glanzstuck des Bistums Regensburg soll in den Dreck gezogen werden", hie? es dort, es ging um "interessierte Kreise", "Desinformation", "bekannte Vorurteile".

Noch 2016 lie? sich der langjahrige Kapellmeister der Domspatzen, Georg Ratzinger, damit zitieren, "diese Kampagne" – er meinte die Aufklarung der Regensburger Missbrauchsfalle – sei fur ihn "ein Irrsinn". (Kurz darauf korrigierte das Bistum in einer Erklarung: Ratzinger halte es auch fur richtig, alle Beschuldigungen aufzuklaren.)

Damals wie heute wird betont, dass es keine systematische Vertuschung gegeben hatte, dass es sich um Verfehlungen einzelner und nicht um systemische Probleme gehandelt hatte. Das ist nicht nur eine Schutzbehauptung oder Verdrangung von Verantwortung, das ist Symptom einer bestimmten Ekklesiologie.

Idealisierung begunstigt Vertuschen

Ahnliche Prozesse sind in vielen gesellschaftlichen Systemen zu finden, in denen es Missbrauch gibt: in Schulen, Sportvereinen, Familien. Was bereits bei der Odenwaldschule mit der Uberhohung ihrer Grunderfiguren zum System beigetragen hat, tritt in der Kirche noch verscharft auf: namlich nicht allein eine diesseitige Institution zu sein, nicht nur ein weltlicher Verein. Die Kirche ist, so die Konstitution "Lumen Gentium" des Zweiten Vatikanischen Konzils, der Leib, dessen Haupt Christus ist: "Die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Gro?en zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und gottlichem Element zusammenwachst."

Ein Kirchenbild, das die Kirche als gottliche Stiftung identifiziert mit ihrer diesseitigen Organisationsform, begunstigt die Vertuschung von Verfehlungen und Verbrechen, die in ihrem Namen und unter ihrem Dach begangen werden. Kritik und Vorwurfe gegenuber der Kirche sind dann nicht einfach nur gravierende Problemanzeigen, sondern stellen die Heiligkeit der Institution insgesamt in Frage.

Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil verzichtet die Theologie gemeinhin darauf, die Kirche als "societas perfecta" zu beschreiben, als "vollkommene Gesellschaft", die fur sich bereits vollstandig ist und alles in sich selbst besitzt, was sie zur Verwirklichung ihrer Ziele benotigt. Das Bild von der "vollkommenen Gemeinschaft" ist aber weiter wirkmachtig und wurde im Umgang mit Missbrauch in den eigenen Reihen oft handlungsleitend: Wenn – wie zunachst bei den Domspatzen – kein unabhangiger Missbrauchsbeauftragter benannt wird, sondern eine Person die Interessen von Opfern und die Interessen der Kirche selbst im Blick behalten muss. Wenn Probleme intern und allein im kirchlichen Rechtssystem gelost werden sollen, anstatt fruhzeitig die weltliche Justiz einzuschalten. Dieser Impuls, alles "unter sich" auszumachen, ist theologisch mit dem Bild der "societas perfecta" vollig einleuchtend: Wenn die Kirche vollkommen ist, dann genugt auch ihr Rechtssystem, dann kann sie sich gar nicht einem weltlichen Recht unterwerfen. Dass der Vatikan anlasslich der Verscharfung des kirchlichen Strafrechts 2010 noch einmal deutlich gemacht hat, dass staatliche Behorden unverzuglich, nicht erst nach dem kirchlichen Verfahren einzuschalten sind, ware unter den Vorzeichen einer "societas-perfecta"-Theologie undenkbar.

Heiligkeit als Ziel, nicht als Zustand

Eine Ekklesiologie, die auf das Bild der "societas perfecta" nicht mehr zuruckgreifen kann, muss Fragen stellen: Ist die Heiligkeit der Kirche eine Aussage uber ihre tatsachliche, faktisch existierende Gestalt? Oder wird "Heiligkeit" als Richtschnur gefasst, eine Richtschnur, an der die Institution sich messen lassen muss, und die sie immer verfehlen muss?

Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965) wird die Kirche gemeinhin nicht mehr als "vollkommene Gesellschaft" bezeichnet.

Wer "Lumen Gentium" weiterliest, sto?t bald auf eine klare Einordnung, wie das Verhaltnis von irdischer und himmlischer Kirche zu fassen ist: Wahrend Christus "heilig, schuldlos, unbefleckt war und Sunde nicht kannte", besteht die Kirche aus Sundern. "Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedurftig, sie geht immerfort den Weg der Bu?e und Erneuerung."

Der Innsbrucker Theologe Roman Siebenrock schlagt vor, die viel diskutierte Formel vom "subsistit in" in der Kirchenkonstitution "Lumen Gentium" anders zu ubersetzen. Nicht "Diese Kirche [Christi] ist verwirklicht in der katholischen Kirche", wie es in der offiziellen deutschen Fassung hei?t, sondern: Die Kirche Christi "bleibt in der katholischen Kirche [...] bestehen". Der Dogmatiker erklart seine Ubersetzung in seinem Aufsatz "Geheiligte Kirche der Sunder", erschienen 2010 auf dem Hohepunkt des Skandals: "So wird die Heiligkeit nicht in Absonderung von ihrer Gebrechlichkeit und Sundigkeit zu suchen sein, sondern nach dem Beispiel der Inkarnation in der Weise der Annahme der Schatten und des Gegenzeugnisses, ja der 'Sunde der Welt' inmitten der Kirche selbst."

Eine verbeulte Kirche ist ehrlicher

Ein solches Verstandnis von der Kirche – in seiner "Einfuhrung ins Christentum" spricht Joseph Ratzinger von einer "unheiligen Heiligkeit der Kirche" – lasst Selbstkritik und Reinigungsprozesse zu. Anstatt die Heiligkeit der Kirche in Form einer Immunisierungsstrategie zu verwenden – denn es kann nicht sein, was nicht sein darf –, bedeutet die Heiligkeit der Kirche gerade, dass es einer standigen Selbstkritik braucht. Kritik von au?en, selbst polemische und unsachliche, selbst solche, die als Angriff gedacht ist, ist Anlass zur Uberprufung, nicht zur pauschalen Abwehr, und ermoglicht Korrekturen und das Eingestandnis des Unvermogens der irdischen Kirche.

Die Erfahrung zeigt – das lasst sich in Studien zu kirchlichem Missbrauch nachlesen wie den "John Jay Reports", die 2004 und 2011 die US-amerikanische Kirche untersuchten –, dass Missbrauch systemisch und kulturell begunstigt wird, und dementsprechend durch eine Organisationskultur auch eingedammt werden kann. Beauftragte fur die Missbrauchspravention in den Bistumern, eine papstliche Kommission "zum Schutz von Minderjahrigen", konsequente Schulung und Sensibilisierung von kirchlichen Mitarbeitern und Ehrenamtlichen, bis hin zur Missbrauchspravention als Pflichtbestandteil der Jugendleiterausbildung: Das sind Elemente zum Aufbau einer Organisationskultur, in der nicht mehr so selbstverstandlich vertuscht und geleugnet werden kann, wie es der Regensburger Untersuchungsbericht schildert – Elemente, die theologisch grundgelegt werden konnen in einer Ekklesiologie, die die Heiligkeit der Kirche als Richtschnur und Ziel versteht, nicht als Zustandsbeschreibung.

Papst Franziskus spricht gern von der "verbeulten Kirche"; ein Kirchenbild, das so gar nicht zum heilen und reinen Bild einer "societas perfecta" passt. Letztendlich ist aber eine verbeulte Kirche ehrlicher als eine scheinbar strahlende, die den Anschein von Makellosigkeit durch Vertuschung, Schweigen und Leugnen erzeugt.

 

 

 

 

 




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