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Einer brach das Schweigen

By Christian Feldmann
Zeit
July 28, 2017

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Rudolf Vorderholzer war Direktor des Instituts Papst Benedikt XVI., bevor er auf Gerhard Ludwig Müller im Regensburger Bischofsamt folgte.
Photo by Armin Weigel

Der Papstbruder Georg Ratzinger war Leiter der Domspatzen von 1964 bis 1994.

[One broke the silence. Rudolf Voderholzer of Regensburg is considered a bishop of the conservative. Vorderholzer was director of the Institute of Pope Benedict XVI, before following Gerhard Ludwig Müller in the Regensburg bishop's office. After his appointment as a bishop, he began working on the abuse scandal around Germany's most famous boyhood choir. Excuses, distraction maneuvers, and half-hearted excuses should no longer be the bishop's response to the decade-long suffering of the Domspatzen.]   Von Christian Feldmann 28. Juli 2017

Die Wende von Regensburg begann 2012 mit einem Mann, dem kaum jemand einen Bruch mit der Linie seines Vorgängers zugetraut hatte: Rudolf Voderholzer aber hat nach seiner Ernennung zum Bischof damit angefangen, den Missbrauchsskandal um Deutschlands berühmtesten Knabenchor aufzuarbeiten. Ausflüchte, Ablenkungsmanöver und halbherzige Entschuldigungen sollten nicht mehr die Antwort des Bistums auf das jahrzehntelange Leiden bei den Domspatzen sein.

Der frühere Dogmatikprofessor aus Trier ist kein innerkirchlicher Reformer: Der 57-Jährige ist Herausgeber von Papst Benedikts Gesammelten Werken und eng verbunden mit dem Rom Joseph Ratzingers. Dessen enger Vertrauter Gerhard Ludwig Müller war nicht nur Voderholzers Vorgänger auf dem Regensburger Bischofssitz, sondern auch sein Doktorvater. Müller blieb auch nach seiner Ernennung zum Präfekten der Glaubenskongregation eine Autorität in Regensburg. Zuvor hatte er die Aufklärung eher verschleppt und den Medien eine kirchenfeindliche "Kampagne" unterstellt.

Entsprechend gehemmt beließ Voderholzer Müllers Generalvikar Michael Fuchs, der sich im Missbrauchsskandal dilettantisch verhalten hatte, im Amt, erklärte, die Aufklärungsarbeit sei bisher durchaus "angemessen" abgelaufen.

Doch unbemerkt von der Öffentlichkeit praktizierte Voderholzer einen neuen Stil, traf sich diskret mit mehreren Opfern, von denen einige noch heute unter den Spätfolgen wie Depressionen und Panikattacken leiden. Dabei spielte auch sein Bruder, ein Psychotherapeut und Arzt für Psychosomatik, eine Rolle. Bei ihm hatte sich Voderholzer intensiv über die Gefahren einer Retraumatisierung informiert. Der Bischof setzte einen Krisenstab ein, der Aufarbeitung, Opferentschädigung und Prävention vorantreiben soll und dem neben Bischof, Domkapellmeister und Internatsdirektor drei Opfervertreter angehören. Allen Seelsorgern und pastoralen Mitarbeitern im Bistum verordnete er eine Fortbildung in Prävention.

Als jetzt der Abschlussbericht zum Domspatzen-Skandal vorgestellt wurde, gab es von Kirchenseite keinen Versuch, zu bremsen oder zu relativieren. Der komplette Text von 440 Seiten ist auf der Bistums-Homepage abrufbar. Und Voderholzer bat in einem Hirtenwort erneut "in Demut" um Vergebung.

Der Domspatzen-Skandal ist der größte Fall von Misshandlung und Missbrauch in Deutschland. Fast wäre er in einer "Kultur des Schweigens" untergegangen, wie der vom Bistum beauftragte Rechtsanwalt Ulrich Weber bei der Vorstellung des Berichts in der vergangenen Woche sagte. 547 Opfer von körperlicher Gewalt und nicht selten auch sexuellem Missbrauch hat er ermittelt. 49 Tatverdächtige listet der Bericht auf, die meisten von ihnen sind inzwischen verstorben. "Der Dreiklang aus Gewalt, Angst und Hilflosigkeit sollte dazu dienen", so Weber, "den Willen der Schüler zu brechen und ihnen Persönlichkeit und Individualität zu nehmen" – alles im Interesse des zauberschönen Chorklangs, den das Publikum gern mit den Engeln im Himmel vergleicht.

Die Veröffentlichung des Berichts ist nun der sichtbarste Beweis dafür, dass sich in der konservativen Diözese endgültig etwas verändert hat. Die Opfervertreter – jahrelang frustriert und verärgert von den Aussagen seines Vorgängers – lobten Voderholzers ehrliches Engagement. Besonders aufgefallen war ihnen, dass der Bischof bei jeder Sitzung des Krisenstabs dabei gewesen war, ohne die Verhandlungen zu beeinflussen. Alexander Probst, Autor der Streitschrift "Von der Kirche missbraucht", sagt: "Wir haben etwas erreicht, von dem wir jahrelang geträumt haben. Es sind nicht allein die Worte, die Voderholzer wählt, sondern die Art, wie er sie sagt. Auch der Bischof hat Narben davongetragen."

Von den Entschuldigungsmechanismen der ewigen Verdränger hatte sich Voderholzer inzwischen klipp und klar distanziert: "Die Zeitbedingtheit der Pädagogik, die hin und wieder verteidigend ins Feld geführt wird, rechtfertigt in keiner Weise die Exzesse körperlicher Züchtigung, wie wir sie beklagen müssen, und erst recht nicht die Fälle sexueller Gewalt." Kurz zuvor hatten Missbrauchsopfer noch frustriert vom jahrelangen Verhalten des Bistums eine "Gesellschaft gegen das Vergessen" gegründet. Zunehmend beeindruckt erlebten sie, wie eine historische und eine sozialwissenschaftliche Studie initiiert wurden, um strukturelle Mechanismen hinter dem Missbrauch durchschauen und Täterprofile zeichnen zu können. Und wie ihnen das Bistum Beträge in vier- oder fünfstelliger Höhe zahlte, die Voderholzer ausdrücklich nicht als Entschädigung, sondern als Anerkennung von Leid und "Zeichen unserer Zerknirschung" verstanden wissen will.

Was hatte sich in Regensburg verändert? Voderholzers großer Förderer Benedikt hatte die kirchlichen Rechtsnormen im Umgang mit den Tätern verschärft und war schon als Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation für eine Null-Toleranz-Linie eingetreten.

Hat der Papst außer Diensten Voderholzer zu seinem vorpreschenden Engagement ermuntert, um die Versäumnisse aus der Müller-Ära vergessen zu machen? Hat der in Regensburg skeptisch beäugte Müller-Nachfolger die Gelegenheit genutzt, um sich von seinem – damals in Rom noch mächtigen – Ziehvater zu emanzipieren?

Die Rolle Georg Ratzingers

Hoffnungen liberaler Katholiken, dass das stramm konservative Bistum unter Voderholzer auch in anderen Fragen offenere und moderne Wege gehen würde, erfüllten sich dennoch nicht: Unter den bayerischen Bischöfen gehört der gebürtige Münchner Voderholzer neben Stefan Oster (Passau) und Gregor Maria Hanke (Eichstätt) zu jener konservativen Fraktion, die sich keine Diakoninnen vorstellen kann, jede Art von Gender-Debatte für eine luziferische Idee hält und im Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen eher auf Distanz zu römischen Öffnungssignalen geht. Dem zum Paria gewordenen Limburger Amtskollegen Tebartz-van Elst gewährte Voderholzer Asyl in seiner Bischofsstadt.

Im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, dem sein Vorgänger den Bistumszuschuss gesperrt hatte, schätzt man Voderholzer als aufrichtigen Gesprächspartner. Bayerns Ministerpräsident Seehofer wird hingegen nicht begeistert gewesen sein, als der Bischof bei der Christmette Migranten und Flüchtlinge willkommen hieß und provokant hinzufügte: "Wir werden nicht fragen: Wie viele seid ihr?"

Leicht hat es Voderholzer in Regensburg nicht. Jeder, der wie er auch nur in Teilen etwas verändern will, trifft auf das besondere katholische Milieu in der Bischofsstadt: In Regensburg haben sie sich wie in einem Reservat für aussterbende Ureinwohner zusammengefunden, die Galionsfiguren der frommen Militanten, die nostalgischen Liebhaber barocker Liturgie-Inszenierungen und römisch-katholischer Weltmachtträume. Eine erzkonservative, oft schrille Welt: vor allem, wenn Fürstin Gloria von Thurn und Taxis mitmischt. Die Adelige kutschierte auch nach dessen Abschied Voderholzers Vorgänger Müller im Golfcart durch die Altstadt, lädt mit Vorliebe konservative Kleriker ins Schloss oder empfängt dort Ungarns Antidemokraten Viktor Orban.

Seit wenigen Tagen liegt für Bischof Voderholzer ein weiteres gewaltiges Hindernis auf seinem so forsch beschrittenen Weg zur Aufklärung: Prälat Georg Ratzinger, 93, der ältere Bruder Papst Benedikts, war von 1964 bis 1994 Domkapellmeister, Vorsitzender des Direktoriums der Stiftung "Regensburger Domspatzen" und somit automatisch eine zentrale Figur für die Frage, wer von den Misshandlungen und Missbrauchsfällen gewusst hat.

Georg Ratzinger ist in Regensburg sakrosankt, er gilt als gütiger, bescheidener Patriarch und, fast blind und an den Rollstuhl gefesselt, als hinfälliger Greis, den man in Ruhe zu lassen hat. Nun schildern ihn im Abschlussbericht die zitierten zahlreichen Ex-Domspatzen zwar als "gerecht", "warmherzig", "sehr menschlich", "zugewandt", aber eben auch als jähzornigen Choleriker, als Perfektionisten, der dem Niveau und dem Welterfolg des Chors alles unterordnete und die schlechten Schüler schikanierte: "Er zog mich mit einer Hand an meinen wuscheligen Haaren hoch und verpasste mir mit der anderen Hand so viele Schläge links und rechts ins Gesicht, dass er am Schluss ein ganzes Haarbüschel von mir in der Hand hielt und ich zu Boden fiel."

Schlimmer noch lesen sich die Berichte, dass Ratzinger mehrfach auf sadistische Schulleiter und Präfekten hingewiesen wurde und nichts unternahm. Der Domkapellmeister hätte "mit Kenntnis der Gewalt aktiv einschreiten können und müssen; er tat es nicht", stellt der Abschlussbericht des Rechtsanwalts Weber fest. Was wird Bischof Voderholzer nun tun, der auch Ratzingers Vorgesetzter ist? Viele erwarten von ihm, dass er den Bruder des Papstes zur Rede stellt oder sich von ihm öffentlich distanziert.




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