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Der Jahrelange Kampf Um Gerechtigkeit

By Sandra Theib
Heute
August 4, 2017

http://www.heute.de/missbrauch-in-der-evangelischen-kirche-zwei-betroffene-kaempfen-jahrelang-fuer-ihr-recht-47646872.html

Nicht nur die Vorfalle bei den Domspatzen zeigen, wie wichtig die Aufklarung von Misshandlungen und sexuellem Missbrauch innerhalb der Kirche ist. Doch was hei?t es fur die Opfer, mit ihren Vorwurfen an die Offentlichkeit zu gehen?

"Unterdruckt keuchend, stark schwitzend und penetrant stinkend presst sich der alte Mann an meinen jungen Korper. Die wollustigen Grunzlaute, die er kurzatmig aussto?t, sind leise, klingen aber dennoch laut in meinen Ohren." Mit diesen Worten beschreibt Joachim Schwarze in seinem Tagebuchroman "Der Trummermann", was der Pfarrer ihm angetan hat. Die Ubergriffe liegen mehr als 40 Jahre zuruck, sie ereigneten sich in Bad Lauchstadt, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt.

Sandra Thei?, ZDF-Studio Magdeburg

Vor gut einem Jahr befand das Disziplinargericht der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland den Pfarrer fur schuldig. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Pfarrer E. mehrfach Kinder und Jugendliche missbrauchte, um sich sexuell zu befriedigen. Der Kirchenmann ging in Berufung. Die wurde jetzt abgelehnt, damit ist das Urteil rechtskraftig. Das hei?t: "Der Pfarrer darf damit nicht mehr als Pfarrer tatig sein, er verliert seine Ordinationsrechte und erhalt aus kirchlichen Mitteln kein Ruhestandsgeld mehr", so Oberkirchenrat Michael Lehmann von der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland.

Sieben Jahre Ungewissheit

Joachim Schwarze ist nicht das einzige Opfer des Pfarrers, es war sein Mit-Konfirmand und Freund, Andreas Muller, der im April 2010 als erster bei der Kirche Anzeige gegen den Pfarrer erstattete. Sieben Jahre vergingen, bis es ein Urteil gab und dieses rechtskraftig wurde - fur die Opfer eine nur schwer ertragliche Zeit der Ungewissheit. Entsprechend gro? ist jetzt die Erleichterung: "Ich bin froh, dass das Urteil rechtskraftig ist. Weitere Jahre hatte ich einen Prozess nicht durchgestanden", sagt Andreas Muller.

Ihr Wunsch nach Gerechtigkeit mundete in einen verzweifelten und schmerzhaften Kampf um Glaubwurdigkeit. Immer wieder - schriftlich, mundlich, vor Gericht und vor Gutachtern - mussten sie erklaren, was damals genau passiert ist. Immer wieder mussten sie die Ereignisse, die mit Gefuhlen von Scham, Erniedrigung und Hilflosigkeit verbunden sind, detailliert schildern. Und immer wieder mussten sie dabei das Erlebte erneut durchleiden, begleitet von der Angst, dass man ihnen nicht glaubt. "Sehr schwer auszuhalten waren die peinlichen Vernehmungen und Gutachten, denen wir uns mehrfach unterziehen mussten. Was glauben Sie, wie man sich fuhlt, wenn man von einem Forensiker, der sonst Schwerverbrecher beurteilt, auf seine Glaubwurdigkeit hin durchleuchtet wird?" - so beschreibt es Joachim Schwarze.

Mangelnder Aufklarungswille innerhalb der Kirche

Als Andreas Muller 2010 Anzeige erstattete, ging es zunachst schnell. Nur Tage spater traf sich Oberkirchenrat (OKR) F. mit ihm und horte sich die Vorwurfe an. Er verspricht Andreas Muller kurz darauf per E-Mail: " Ich sorge dafur, dass Pfarrer E. nie wieder als Pfarrer mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt kommt und so sein Amt missbrauchen kann." Doch der Oberkirchenrat handelt nicht entsprechend. Als Andreas Muller einige Monate spater nachfragen mochte, ist OKR F. plotzlich nicht mehr erreichbar, geht nicht ans Telefon und reagiert nicht auf E-Mails.

Die vorerst letzte E-Mail an den Oberkirchenrat schreibt Andres Muller am 26. Mai 2011, darin spricht er konkret von sexuellen Ubergriffen und bittet um Hilfe, weil er mit dem Pfarrer Kontakt aufnehmen mochte. Auf dem Verteiler stehen etliche Mitglieder der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland, doch keiner reagiert, niemand wird hellhorig - schlie?lich ging die Mail ja an den Oberkirchenrat, so die Begrundung spater. Von einer aktiven Vertuschung kann man nicht ausgehen, aber ein echter Wille zur Aufklarung sieht anders aus.

Es vergehen mehr als zwei Jahre. Erst als Joachim Schwarze uber die Pressestelle der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland nachhakt, was aus der Anzeige seines Freundes geworden ist und angibt, als Kind selbst Opfer des Pfarrers gewesen zu sein, kommt die Aufarbeitung ins Rollen.

Tater werden zu Opfern gemacht - und Opfer zu Tatern

Mit der Veroffentlichung des Buches "Der Trummermann", in dem Schwarze den Missbrauch anonymisiert beschreibt, und dem Bekanntwerden der Vorwurfe gegen den Pfarrer durch eine Pressemitteilung der Kirche, wird in Bad Lauchstadt schnell klar, wer die Anschuldigungen erhebt. Plotzlich sehen sich Joachim Schwarze und Andreas Muller sowie ihre Angehorigen Anfeindungen ausgesetzt. Der Tenor ist immer derselbe: Wie konnen Sie den Pfarrer, der fur unsere Jugendlichen so viel getan hat, verleumden? So schreibt die Bad Lauchstadterin W. Joachim Schwarze uber die Kontaktseite seines Buches im Juli 2012: "Haben Sie es eigentlich notig, einen 78-jahrigen Pfarrer zu diffamieren? Man glaubt ihnen doch auch so, dass Sie ein Problem haben."

Heute sagt Andreas Muller: "Das schwierigste auf diesem Weg war eindeutig, dass wir als Tater hingestellt worden sind. Der Pfarrer als Opfer." Das Urteil ist wie ein Befreiungsschlag. "Ich fuhle mich, so komisch es klingt, rehabilitiert, denn wir wurden nach unserer Anzeige sowohl von den Anwalten des Pfarrers als auch von der Offentlichkeit als Schuldige gebrandmarkt", so Joachim Schwarze.

Opfer fordern Abschaffung der Verjahrungsfrist bei sexuellem Missbrauch

In einem sind sich die beiden Opfer und die Kirche einig: Die - je nach Vergehen unterschiedlichen - Verjahrungsfristen mussen weg, denn viele Opfer verdrangen uber Jahre, was ihnen angetan wurde. Oft dauert es Jahrzehnte, bis sie ihre Scham, Angst und Zweifel uberwinden und sich trauen, die Vorwurfe offentlich zu machen. Joachim Schwarze formuliert es so: "Mit welchem Recht beschenkt man diese Tater nach dieser Frist mit Straffreiheit, wahrend deren Opfer lebenslang die Folgen tragen mussen?"

CHRONOLOGIE IN STICHPUNKTEN

April 2010: Andreas Muller wendet sich mit den Vorwurfen an die Pressestelle der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, die das Anliegen an den Oberkirchenrat (OKR) F. weiterleitet. Muller gibt an, von Pfarrer E. missbraucht worden zu sein.

07.04.2010: OKR F. trifft sich mit Muller zum Gesprach.

Mai 2011: Muller, der OKR F. immer wieder erfolglos kontaktiert hatte, schreibt ihm die vorerst letzte Mail - wieder keine Antwort.

19.05.2012: Joachim Schwarze wendet sich an die Pressestelle der EKMD und fragt, warum die Anzeige von Muller nicht weiter verfolgt wurde. Schwarze gibt an, dass er selbst Opfer des Pfarrers war.

05.06.2012: Einleitung des Disziplinarverfahrens gegen Pfarrer E.

03.07.2012: Beauftragung des Oberstaatsanwalts a.D. Klaus Puderbach mit den Ermittlungen.

Im Laufe der Ermittlungen und des Prozesses wechselt Pfarrer E. mehrfach den Rechtsvertreter

Ab August 2012: Suche nach weiteren Zeugen.

Ab Okt./Nov. 2012: Vernehmung weiterer Zeugen.

28.03.2013: Abschlussbericht des Oberstaatsanwalts.

26.06.2013: Erhebung der Disziplinarklage.

12.03.2014: Erster Verhandlungstag.

29.06.2016: Urteil: Disziplinarkammer der EKD erklart Pfarrer E. fur schuldig, der Anwalt des Pfarrers kundigt Berufung an.

29.06.2017: Berufungsverhandlung vor dem Disziplinargerichtshof der EKD, die Berufung wird abgelehnt, das Urteil ist rechtskraftig.

 

 

 

 

 




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