BishopAccountability.org

Anmerkungen zum Domspatzen-Abschlussbericht

By Von Robert Werner
Regensburg Digital
August 04, 2017

http://www.regensburg-digital.de/anmerkungen-zum-domspatzen-abschlussbericht/04082017/

Rechtsanwalt Ulrich Weber und sein der Co-Autor Johannes Baumeister haben in ihrem Bericht die Stimmen der von sexualisierter und körperverletzender Gewalt Betroffenen gebündelt und das seit 2010 vielfach und massiv geschilderte Ausmaß der Übergriffe bestätigt.


Die ehemaligen Domspatzen Udo Kaiser, Georg Auer, Alexander Probst und Michael Sieber beim Katholikentag 2014 in Regensburg.

Es ist der Verdienst von Bischof Rudolf Voderholzer, dass er das Gespräch mit Betroffenen bald gesucht und im April 2015 eine grundlegende Wende eingeleitet hat.

Dr. Barbara Seidenstücker (OTH Regensburg), Dr. Knud Hein (Hochschule Darmstadt) und Rechtsanwalt Ulrich Weber entscheiden über die Anerkennungsleistungen.

Generalvikar Michael Muchs. Frage nach persönlichen Konsequenzen.

[Notes on the Domspatzen final report: Over two years after lawyer Ulrich Weber jumped into a basin, the depth of which he did not know, he came up with an outstanding final report. Its importance is to be assessed all the more highly, since its diocesan clients, with their temporal, local, and personnel restrictions relative to the Domspatzen institutions, apparently did not strive for a comprehensive explanation, but rather strove for an act of liberation and probably a tactical pacification of the publicly affected victims.]

Über zwei Jahren nachdem Rechtsanwalt Ulrich Weber in ein Becken sprang, dessen Tiefe er nicht kannte, ist er mit einem herausragenden Abschlussbericht aufgetaucht. Seine Bedeutung ist umso höher zu bewerten, da seine diözesanen Auftraggeber mit ihren zeitlichen, örtlichen und personellen Einschränkungen bezogen auf die Domspatzen-Einrichtungen offenbar keine umfassende Aufklärung angestrebt, sondern eher einen Befreiungsschlag und wohl eine taktische Befriedung der öffentlich aufgetretenen Betroffenen angestrebt haben. Eine kritische Auseinandersetzung.

Der neulich veröffentlichte Abschlussbericht von Rechtsanwalt Ulrich Weber („Vorfälle von Gewaltausübung an Schutzbefohlenen bei den Regensburger Domspatzen“) hat die Debattenlage in Regensburg wesentlich verändert. Seine sehr reichhaltige Materialfülle und wichtigen Ergebnisse sind von wegweisender Bedeutung und dürften das diffamierende Gerede, die öffentliche auftretende Betroffenen seien vor allem Kirchenfeinde, geldgierige Figuren und oder Trittbrettfahrer, zumindest eindämmen.

Mit einem Wink gegen den vormaligen Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller stellt der Bericht fest: Die Vorfälle in den Einrichtungen der Domspatzen haben „nichts mit postfaktischen Angaben zu tun, um die Kirche oder die Domspatzen in Misskredit zu bringen“, sondern seien trauriger Teil der Domspatzen-Geschichte, der eine entsprechende Aufklärung, Aufarbeitung und Würdigung verlange. (S. 17)

Bemerkenswerterweise kommen im Bericht auch viele ehemalige Domspatzen zu Wort, die sich aus ihrer Erfahrung und Sichtweise heraus für eine positive Bewertung des Schulinternats einsetzen. Viele dieser Ehemaligen versuchten nach 2010 mit ihrer Sicht die leidvollen Erfahrungen anderer zu übertünchen oder zumindest zu relativieren. Nicht wenige tun dies bis heute, etwa in der identitären Facebook-Gruppe, die den programmatischen Namen „Ehrengruppe für Georg Ratzinger“ trägt auch von prominenten Mitgliedern, wie dem Leiter der Staatlichen Bibliothek Regensburgs und dem MZ-Redakteur Helmut E. Wanner, unterstützt wird.

Erste Einordnungen und Würdigungen

Weber und sein der Co-Autor Johannes Baumeister, der die wissenschaftliche Auswertung und Bearbeitung der erhobenen Datenschätze leistete und bis 2016 fünf Jahre lang Finanz-Geschäftsführer des SSV JAHN Regensburg war, haben die Stimmen der von sexualisierter und körperverletzender Gewalt Betroffenen gebündelt und das seit 2010 vielfach und massiv geschilderte Ausmaß der Übergriffe bestätigt. Ebenso wurde eine Vielzahl von Tätern in abgekürzter, teils verschlüsselter Form benannt.

In ihrer juristisch gehaltenen Analyse zeigen die Berichterstatter Weber und Baumeister neben den Taten und ihren Folgen für die Betroffenen auch das Versagen der damals Verantwortlichen und das problematische Ziel eines leistungs- und erfolgsorientierten Chorbetriebs sehr eindrücklich auf. Diesem habe man das Wohl der einzelnen Schüler untergeordnet und damit Gewalt als Erziehungsmittel legitimiert. Andere systemische Gründe oder persönliche Motive der Täter zu erforschen, überlässt der Bericht ausdrücklich den nachfolgenden Sozialwissenschaftlern.

Der Abschlussbericht selber dient aktuell auch als Grundlage für die vom Bistum 2016 in Auftrag gegebene und laufende sozialwissenschaftliche Studie der Kriminologischen Zentralstelle e.V. Wiesbaden (KrimZ). Die KrimZ wird zur vertiefenden Analyse unter anderem Interviews mit Betroffenen führen, Abschlussergebnisse werden zum Januar 2019 erwartet.

In einer moderaten Kritik rekapitulieren Weber und Baumeister den Umgang des Bischöflichen Ordinariats mit den Vorfällen ab 2010 und bestätigen der heutigen Domspatzen-Leitung einen Wandel und ein Umdenken in der Führung ihrer Einrichtungen. Eigenartigerweise ohne diesen Aspekt näher untersucht zu haben bzw. die Bewertung nachvollziehbar belegen zu können.

Der Bericht wurde alsbald von vielen Seiten gewürdigt. Am Aufklärungs- und Aufarbeitungsprozess beteiligte ehemalige Domspatzen zollten den Berichterstattern bereits kurz nach der Präsentation Respekt und äußerten Genugtuung hinsichtlich der Bestätigung ihrer Sicht. Bischof Voderholzer dankte in einem Hirtenwort den beteiligten Betroffenen, die den „wichtigsten Beitrag zu dieser Arbeit“ geleistet hätten. 

Dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, zufolge könne man dem Bericht „richtig lehrbuchhaft“ entnehmen, dass bei den Domspatzen klare Abhängigkeitsstrukturen und ein System der Angst geherrscht habe. Rörig erklärte dem Kölner Domradio gegenüber, es sei ihm wichtig, dass auch andere „im kirchlichen wie außerkirchlichen Bereich Tätigen genau schauen, was in Regensburg jetzt ans Licht gekommen ist“, um zu verhindern, dass Kinder in Familien und anderen Einrichtungen eine ähnliche Gewalt erleiden müssen.

Der Sozialpsychologe Dr. Heiner Keupp, der an Studien über sexualisierte Gewalt in dem Benediktinerstift Kremsmünster und der Benediktinerabtei Ettal mitarbeitete, 
bezeichnete den Abschlussbericht von Weber und Baumeister gegenüber unserer Redaktion als „herausragend wichtige Arbeit“ und reichhaltige Grundlage für weitere wissenschaftliche Forschungen. Heiner Keupp, seit 2008 emeritierter Hochschullehrer, ist unter anderem Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und würde es begrüßen, wenn der Domspatzen-Abschlussbericht in der von ihm herausgegeben Buchreihe zur Aufarbeitung sexueller Gewalt publiziert werden könnte.

Das Geplänkel um eine geforderte (und im Gegenzug ebenso eingeforderte) Entschuldigung des ehemaligen Regensburger Bischofs Gerhard Ludwig Müller für sein damaliges Verhalten und die Fixierung auf die Rolle des Domkapellmeisters a.D. Georg Ratzinger bestimmen die Medienberichte seither. Was fehlt, ist eine differenzierte öffentliche Auseinandersetzung mit den Resultaten der Studie und den möglicherweise zu ziehenden Konsequenzen.

Einige Aspekte des Berichts werden daher im Folgenden näher und kritisch beleuchtet.

1. Vorgeschichte des Auftrags

Im Bericht räumt der (noch vom damaligen Bischof Gerhard Ludwig Müller) im Jahre 2010 mit der Aufklärung von sexuellen und körperlichen Gewalttaten beauftragte Generalvikar Michael Fuchs unverblümt Ratlosigkeit ein. Bald nach den ersten Anerkennungszahlungen für erlittenes Leid aus sexuellen Übergriffen, die gemäß der Empfehlung der Deutschen Bischofskonferenz von Mitte 2010 geleistet worden seien, habe man gemerkt, dass die angedachte Abarbeitung von Einzelfällen nicht ausreichen werde. Die Meldungen von Betroffenen rissen nicht ab, viele Vorfälle konnten nicht wie vorgesehen aufgelöst werden, so Fuchs. Eine Änderung im Vorgehen wurde daraus jedoch nicht abgeleitet. Die Pressekonferenz von November 2014, als der Ansprechpartner des Bistums Regensburg für sexuellen Missbrauch, Dr. Martin Linder, die nicht vorankommende Aufklärung und die dubiosen Zahlen des Generalvikars positiv darstellen sollte, scheiterte grandios.

In Webers Bericht heißt es dazu: „Gerade die Pressekonferenz von 2014 zeigt auch ein Stück weit Ratlosigkeit, wie wir [das Ordinariat] denn da weiterkommen können, damit es bei den vielen Opfern auch zu einer Heilung und zu einer Genugtuung kommen“ könne (S. 393). Der eigentliche Tiefpunkt in der öffentlichen Wahrnehmung der Diözese kam bald darauf, mit der ARD-Dokumentation „Sünden an den Sängerknaben“ von Mona Botros. Die weitreichende Wirkung der in der Doku gezeigten erschütternde Auftritte von mehreren betroffenen Domspatzen – darunter Georg Auer, Udo Kaiser und Alexander Probst – zwang das Bistum zum Umdenken. Vor allem löste das im Film augenfällig vorgeführte Verhaltensmuster von Vertretern einer offenbar angeordneten Linie der Anerkennungsverhinderung und Relativierung der Übergriffe großes Entsetzen aus. Hervorgetan haben sich dabei seitens der Diözese: der Pressesprecher Bistums Clemens Neck, der Missbrauchsbeauftragte Dr. Martin Linder und beauftragte Rechtsanwalt Geedo Paprotta.

Bald nach dem Film dachte man im Bischöflichen Ordinariat an, einen externen Rechtsanwalt mit dem zu beauftragen, was man selber nicht glaubwürdig leisten konnte: der Aufklärung und Dokumentation aller bekannten körperverletzenden und sexuellen Straftaten. Der letzte Impuls für eine externe Beauftragung kam mit dem Ergebnis einer internen Wahrnehmungsstudie, die Anfang April 2015 ergab: 80 Prozent der Befragten aus diversen Gruppen, die mit den Einrichtungen der Domspatzen geschäftlich zu tun hatten, kritisierten eine mangelnde Aufklärung der Vorfälle und vermuteten ein bewusstes Verzögern durch Verantwortliche (S. 390).

2. Grenzen des Auftrag und Schutz der Institution

Der genaue Wortlaut und die Bedingungen des Vertrags zwischen Rechtsanwalt Weber und der Regensburger Diözese sind nicht bekannt. Die Berichterstatter sollten auftragsgemäß „die Vorfälle von Gewaltausübung durch Erziehungspersonal an Schülern der Regensburger Domspatzen im Zeitraum von 1945 bis 2015“ untersuchen. (S.1) Diese zeitliche, örtliche und personelle Beschränkung ist, wie sich an konkreten Punkten noch zeigen wird, überaus problematisch. Nicht zuletzt deshalb, weil mehrere der in Frage kommenden Täter schon vor 1945 und auch außerhalb der Domspatzen-Einrichtungen übergriffig und straffällig wurden, so etwa die Domspatzen-Direktoren Georg Zimmermann und Franz-Xaver Kolbeck.

Eine Untersuchung der Lebensläufe einiger Täter und Verantwortlicher, die über die zeitlichen und örtlichen Grenzen des Auftrags hinausgeht, hätte zudem eine Vielzahl von personellen Abhängigkeiten und institutionellen Verstrickungen ergeben, die etwa um das ehemalige Regensburger Bischöfliche Knabenseminar Obermünster als Sozialisations-Ort kreisen. Es gibt auffällig viele Personen, die als Zöglinge oder Verantwortliche am Obermünster-Studienseminar und später am „Gewaltsystem Domspatzen“ beteiligt oder damit befasst waren: der Domkapellmeister und Täter Theobald Schrems, der Domspatzendirektor und Täter Friedrich Zeitler, der Domspatzendirektor und Täter Georg Zimmermann, der Domspatzendirektor und Täter Siegfried Lintl, der Domspatzendirektor und Täter Johann Meier, der Domspatzendirektor und (mutmaßliche Täter) Josef K. Der jetzige Leiter der diözesanen Gerichtsbehörde (Gerichtsvikar) in Regensburg, Josef Ammer, war ein Obermünster-Zögling, der aktuelle stellvertretende Leiter des Domspatzen-Internats, Christian Vieracker, publizierte 1999 eine Studie zum Obermünster-Seminar, in der er Kritiker von Prügelstrafen diffamierte. 

Dass Rechtsanwalt Weber auftragsgemäß nur die sexuelle und körperverletzende Gewalt seitens des Personals untersuchen sollte, und nicht auch die innerhalb der Schülerschaft oder die von externen Personen ausgeübte, dürfte ein Versuch der Auftraggeber gewesen sein, eine noch höhere Opferzahl und die damit einhergehende Schädigung des Rufs der Institution „Domspatzen“ zu verhindern. Weber hat diese tendenziöse Grenzziehung im Bericht leider nur ansatzweise problematisiert aber darauf hingewiesen, dass mehrere von ihm nicht überprüfte, aber angedeutete Übergriffe „zwingend für eine entsprechende Sensibilisierung der Verantwortlichen und eine Berücksichtigung in Präventionskonzepten sorgen“ sollten. (FN 1602, S. 227)

Zu verantworten haben die zeitlichen, örtlichen und personellen Beschränkungen die diözesanen Auftraggeber und die aktuelle Leitung der Domspatzen, die trotz ihrer Kenntnis von sexualisierten Gewaltübergriffen gegen Schüler, diese nicht untersucht haben wollten – dazu später ausführlich. Ob und inwieweit Bischof Voderholzer darüber Bescheid wusste, ist unklar.

3. Reflexion und Prävention

Die von Bischof Voderholzer seit 2013 besonders herausgestellten Gespräche mit Betroffenen dürften bei der externen Vergabe zwar nicht unbedeutend, aber nicht entscheidend gewesen sein. Dies wird gerade daran deutlich, dass Voderholzer sich selbst vor allem als „Leidenden“ oder um Verzeihung Bittenden darstellte und er einen womöglich stattgefundenen persönlichen Bewusstseinswandel nicht nachvollziehbar formulierte. Bei Voderholzer ist, soweit bekannt, keine intellektuelle oder pastoral-theologische Reflexion über lange Zeit vorherrschenden Strukturen erkennbar, aufgrund derer sexueller Missbrauch und systematische Körperverletzungen in kirchlichen Einrichtungen zumindest geduldet, wenn nicht befördert wurde.

Anders als etwa bei jesuitischen Führungskräften in ähnlicher Lage hat in Regensburg bislang kein Bischof oder ein Verantwortungsträger der Domspatzen sein eigenes Tun und (Nicht-)Handeln über eine bloße Betroffenheits- und Entschuldigungsgeste hinaus selbstkritisch und substanziell öffentlich reflektiert.

Dass die Gespräche, die Bischof Voderholzer auch mit Betroffen aus anderen kirchlichen Einrichtungen geführt haben soll, nicht auch in diesem Bereich zu einem offen kommunizierten und klar strukturierten Kurswechsel und der Beauftragung eines externen Rechtsanwaltes führte, bestätigt diese Annahme. Es ist dennoch der Verdienst von Bischof Rudolf Voderholzer, dass er das Gespräch mit Betroffenen bald gesucht und im April 2015, über zwei Jahre nach seiner Inthronisierung als Regensburger Bischof, eine grundlegende Wende im Umgang mit den strafrechtlich relevanten Übergriffen in den Domspatzen-Einrichtungen vollzogen hat. Die externe Vergabe der Aufklärung hat ihm nicht nur Freunde und Zustimmung beschert.

In hohem Maße zweifelhaft sind die seit 2010 öffentlich vorgetragenen Erklärungen des Chor-Managements und der Internatsleitung, die bei jeder Gelegenheit einen angeblich längst stattgefundenen Wandel reklamieren und auf die schon längst aufgestellten Präventionskonzepte verweisen, ohne die dafür zugrundeliegenden und die in der Folge trotzdem erneut auftretenden Gewaltvorfälle zu benennen.

Wie der Vortrag von Domkapellmeister Roland Büchner, gehalten im Februar 2017 auf dem Leipziger Symposium zur Kinder- und Jugendstimme, zeigt, hat man sich bei den Domspatzen zwar viel und auch Wichtiges überlegt. Aber zu glauben, dass man Mitarbeiter präventiv und zielführend dazu verpflichten kann, dass sie „pädophile Neigungen“ melden müssen, so sie welche verspüren, klingt in diesem Zusammenhang unbedarft.

Wer fundierte Prävention betreiben will, wird gut daran tun, den nun vorliegenden Bericht (und später die Folgestudie) alsbald auszuwerten und in selbstkritischer Auseinandersetzung zusammen mit externen Fachleuten ein entwicklungsfähiges Präventionskonzept zu erarbeiten, das Vorfälle benennt und nicht verschweigt.

4. Plausibilität und Zahlen

Die wesentliche Grundlage für Webers Bericht sind die Schilderungen von ehemaligen Domspatzen. Die Berichte von 460 Ehemaligen, 41 Zeugen und 29 Verantwortlichen aus Domspatzen-Einrichtungen belasten 115 Personen körperverletzender und sexualisierter Gewalt. Die im Zuge der Ermittlungen angefallenen Unterlagen und erhobenen Berichte bleiben bis zur Vernichtung in seiner Kanzlei, teilte Rechtsanwalt Weber auf Anfrage mit.

Wie viele Täter konnten ermittelt werden? Nach der Überprüfung von 106 Bezichtigten beziffert Weber die als hoch plausibel eingestuften Täter mit 49 – neun davon gelten als sexuelle Täter. Neben diesen Personen gibt es Beschuldigte, die im Bericht mit einer mittleren (28) oder geringen (12) Plausibilität als Täter eingestuft werden. Bei 17 Beschuldigten betrachtet der Bericht die Vorwürfe als „unplausibel“. Anders gesagt gibt es 40 weitere Beschuldigte, die als nicht entlastet gelten müssen und mutmaßlich zu den Tätern zu zählen sind. Jedenfalls aus der Sicht jener Betroffenen, die die Beschuldigungen vortragen haben.

Bewertung der Beschuldigungen

Aufgrund welcher Vorgehensweise wurden die 49 Beschuldigten als (sehr) „hoch plausibel“ eingestuft? Wie in einem Strafprozess gingen Weber und Baumeister bei der Überprüfung eines Vorwurfs gegen einen Beschuldigten zunächst von dessen Unschuld aus. Erst wenn die gesammelten Fakten nicht mehr mit dieser Unschuldsannahme vereinbar waren, wurden sie verworfen. Nur wenn die gesammelten Informationen und belastenden Angaben mit einer (sehr) hohen Wahrscheinlich für den Strafbestand sprachen, wurde der Beschuldigte als Täter klassifiziert. Bleiben Widersprüche oder Unklarheiten, wird ein Beschuldigter mit der Bewertung „mittel“ oder „gering“ plausibel als Täter eingestuft. Auf diese Weise konnte der Untersuchungsbericht neben den bereits erwähnten 49 Tätern mit einer gewissen Plausibilität 40 weitere (mutmaßliche) Täter ermitteln.

Diese Plausibilitätsprüfung erhebt jedoch laut Untersuchungsbericht keinen Wahrheitsanspruch: „Ein faktischer Beleg für das tatsächliche Geschehen ist damit nicht gegeben.“ (S. 8) Weder für die Täterschaft noch für den eigentlichen Vorfall bzw. gemeldeten Übergriff.

Glaubhaftmachung

Bei „der Beurteilung der Opferstellung“ (S. 259) legt der Untersuchungsbericht einen anderen Maßstab an. Auch hier folgt zunächst eine Beurteilung der objektiven Tatsachen, wie etwa die Angaben zu Schuljahr, Anwesenheitszeiten, Tatort, Tatzeit etc., und dann eine Analyse des Opfergesprächs auf Stimmigkeit. Für eine abschließende Beurteilung lehnt sich Rechtsanwalt Weber dann an das höchstrichterlich bestätigte Entschädigungsrecht des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) an, das als Beweismaßstab „nur“ eine Glaubhaftmachung fordert. Wenn die Angaben der Opfer „mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können“ (S. 259), gelten sie demnach als wahr.

Da die Kriterien des OEG eher erfüllt werden können als die des Strafprozesses, ist der Anteil der als „mittel“, „gering“ oder „unplausibel“ eingestuften Opferberichte geringer als bei der Täterbeschuldigung.

Körperverletzung

Konkret: bei den 540 geprüften Meldungen zu körperlicher Gewalt wurden 500 als hoch plausibel, 21 als „mittel“ und nur 13 als „gering“ plausibel eingestuft. Sechs der Vorwürfe als „unplausibel“. Der Großteil dieser gemeldeten körperlichen Übergriffe bezieht sich auf die Domspatzen-Vorschulen in Etterzhausen und Pielenhofen.

Die Frage nach der Dunkelziffer bei Köperverletzungen kann hier direkt angeschlossen werden. Rechtsanwalt Weber ging bereits im Januar 2016 von mindestens 700 Betroffenen sexueller und körperlicher Gewalt aus. Legt man die Einschätzung jener Ex-Domspatzen zugrunde, die sich an Weber wandten und von ihm daraufhin nach dem Anteil der Opfer körperlicher Gewalt befragt wurden, ergeben sich viel höhere Zahlen. Demnach wären mehr als die Hälfte der Vorschüler aus Etterzhausen und Pielenhofen Opfer von körperverletzender Gewalt gewesen – was Weber im Bericht als eine vorsichtige Schätzung betrachtet. (S. 139) Konkret für die 35-jährige Direktorenzeit des Täters Johann Meier bedeutet das: bei einer Schülerzahl von rund 2100 Schülern wären allein für die Grundschule in Etterzhausen und später Pielenhofen von 1957 bis 1992 fast 1200 Gewaltopfer zu beklagen. Die Gesamtzahl aller Domspatzen-Vorschüler beträgt für den Zeitraum 1945 bis 2014 etwa 3300.

Sexuelle Übergriffe

Nach der Überprüfung von 107 Vorwürfen sexueller Gewalt taxiert der Bericht 67 Vorfälle als hoch plausibel, 13 als „mittel“ und 12 als „gering“ plausibel. Das heißt, zu den 67 „hoch plausiblen“ sexuellen Übergriffen, die nach der Veröffentlichung des Berichts durch alle Medien gingen, kommen 25 weitere Vorfälle hinzu, die mit einer gewissen Plausibilität im Raum stehen.15 vorgetragene Vorfälle sexueller Gewalt werden im Bericht als „unplausibel“ betrachtet.

Darüber hinaus gibt es laut den Berichterstattern weitere sexuelle Missbrauchsopfer, die trotz eingegangener Meldungen auftragsgemäß weder untersucht noch quantitativ erfasst worden sind, da die Taten außerhalb der Domspatzen-Einrichtungen geschehen sind. Genannt werden: „beispielsweise Vorfälle im Rahmen der Reisen zwischen Elternhaus und Internat, Vorfälle bei Gasteltern auf Konzertreisen, privater Musikunterricht außerhalb des Internats sowie reine Kontaktanbahnungen im Musikgymnasium zum Zwecke sexueller Handlungen“. (S. 227) Hinzu kommen sexuelle Übergriffe innerhalb der Schülerschaft oder durch erwachsene Schüler, die ebenfalls auftragsgemäß nicht quantifiziert und untersucht worden sind.

Die Gesamtsumme der im Rahmen des Berichts bekannt gewordenen ehemaligen „Domspatzen“, die sexualisierte Gewalt erleiden mussten, dürfte somit die 100er-Grenze weit überschreiten – wobei nur die Meldungen und Nennung mit zumindest geringer Plausibilität berücksichtigt und die als „unplausibel“ eingestuften aussortiert worden sind.

Die darüber hinaus anzunehmende Dunkelziffer von Missbrauchsopfern beträgt laut anerkannten wissenschaftlichen Studien ein Vielfaches der bekannt gewordenen Opfer. In den Dunkelziffern sind das x-fache persönliche Leid von Betroffenen, die sich nirgendwo melden, und die wahre gesellschaftliche Dimension der sexualisierten Gewalt zu erahnen.

5. Eckdaten der finanziellen Anerkennungsleistung und Beratung

Bislang haben rund 300 betroffene Domspatzen beim Bistum einen Antrag auf finanzielle Leistung gestellt. Über die Höhe der Anerkennung entscheidet ein vom Bistum unabhängiges Gremium, bestehend aus Dr. Barbara Seidenstücker (OTH Regensburg), Dr. Knud Hein (Hochschule Darmstadt) und Rechtsanwalt Ulrich Weber.

Nach Auskunft von Barbara Seidenstücker wird im Gremium über „ausnahmslos alle Anträge“ gemeinsam entschieden, egal ob und wie der jeweilige Fall im Abschluss-Bericht bewertet wurde. Je nach Schwere, Häufigkeit und Folgeschäden der Übergriffe werden vom Anerkennungsgremium zwischen fünf- und zwanzigtausend Euro bewilligt. Ausnahmen soll es nur in besonderen Einzelfällen geben. Etwa fünfzig Anerkennungsleistungen sollen bereits bei den jeweiligen Betroffenen eingegangen sein. Insgesamt rechnet man mit einer Gesamtsumme von 2,5 bis 3 Millionen Euro, die das Bistum an Betroffene zahlen müsste. Bis Ende diesen Jahres (2017) will das Gremium alle gestellten Anträge bearbeitet haben.

Da das Bistum voraussichtlich ab 2018 wieder selber über eingereichte Anträge entscheiden wird, sollten noch unentschiedene Betroffene ihre Anträge bald stellen, so sie eine Entscheidung vom unabhängigen Gremium haben wollen.

Unabhängige Hilfestellung bei der Antragstellung leistet das „Münchner Informationszentrum für Männer“ (MIM), das bis September 2018 für Beratungsgespräche oder auch betreute Gruppengespräche für Betroffene (nur Domspatzen!) zur Verfügung steht. Da der Auftrag von Rechtsanwalt Ulrich Weber mit seiner Berichterstattung beendet ist, steht seine Kanzlei nicht mehr als Anlaufstelle zur Verfügung.

6. Gesäuberte Akten und leugnende Täter

Was trugen die Akten der Diözese und Domspatzen zur Ermittlung der Täter und ihrer Opfer bei? Bezeichnenderweise fast gar nichts. Wie aus dem Abschlussbericht hervorgeht, waren die Weber zur Verfügung gestellten Personalakten durchgehend entweder unvollständig und schludrig geführt oder vom belastenden Material gesäubert worden. Der Abschlussbericht zeigt dies deutlich am Beispiel der verurteilten und schon im Jahr 2010 vom Bistum präsentierten verstorbenen Täter auf: dem Domspatzendirektor Direktor Z. (Friedrich Zeitler) und dem eigentlich als Domkapellmeister vorgesehenen Direktor G. (Georg Zimmermann). Den Namen des über Jahrzehnte schädigenden Missbrauchstäters Zimmermann, der nur eines knappes Jahr als Direktor amtierte, tilgte man sogar aus der Festschrift „ 50 Jahre Musikgymnasium“ (1998). Diese tat- und täterverschleiernde Verwaltungspraxis hat, wie die bis heute zumeist leugnenden Täter, unmittelbare und äußerst negative Folgen für die Betroffenen, da sie eine Bestätigung der Opfer-Berichten teilweise verunmöglicht und bis heute verhindert.

Geheimarchiv und Verantwortung

Nach der Lektüre des vorliegenden Domspatzen-Abschlussberichts sieht sich Dr. Thomas Schüller, Professor für Kirchenrecht an der Universität Münster
in seiner Einschätzung bestätigt, dass wohl einige Bistümer in Deutschland Personalakten von Missbrauchstätern unvollständig geführt oder nach 2010 einer Kassation unterzogen haben. Im Gespräch mit regensburg-digital benannte Schüller als eine weitere Schwachstelle des Domspatzenberichts, dass die Personalakten von Mitarbeitern des diözesanen Archivs ausgewählt bzw. übergeben und nicht vom Rechtsanwalt persönlich eingesehen oder eingeholt wurden.

Persönlichen Zugang hatte Rechtsanwalt Weber tatsächlich nur zu den Archiven der Domspatzen. Er geht aber davon aus, dass ihm ansonsten alle relevanten Unterlagen zur Verfügung gestellt wurden.

Des Weiteren wies Thomas Schüller im Gespräch mit unserer Redaktion auf den fehlenden persönlichen Zugriff Webers auf das bischöfliche Geheimarchiv hin, in dem sich nach geltendem Kirchenrecht Unterlagen zu sexuellen Übergriffen befinden müssten. Schüller, der bis 2009 als Kirchenanwalt am Bischöflichen Offizialat in Limburg mit Plausibilitätsprüfungen befasst war, konnte dabei mit Hilfe des ihm zugänglichen bischöflichen Geheimarchivs nicht selten Meldungen von Missbrauchsbetroffenen an das Bistum verifizieren.

Gefragt nach personellen Konsequenzen aus dem Abschlussbericht, meinte Thomas Schüller, dass aus kirchenrechtlicher Sicht für die mangelhafte Aufklärung der Gewalttaten Generalvikar Michael Fuchs, vor allem in seiner Zeit als Generalvikar von Bischof Müller, die Verantwortung trage und sich fragen lassen müsse, welche persönliche Konsequenzen er daraus ziehen sollte.

Ein Täter, der ausnahmsweise mit Hilfe von Akten ausfindig gemacht werden konnte, ist der Präfekt Ambros Pfiffig. Pfiffig wurde 1948 nach seiner Flucht aus Etterzhausen, wo er im Domspatzen-Internat als Missbrauchstäter aufflog, vom Regensburger Generalvikar Josef Franz nach Tirschenreuth zur Jugendseelsorge versetzt und erst 1958 in Österreich zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt (Siehe hierzu die Recherchen von regensburg-digital von März 2013). Da sich kein von Pfiffig geschädigter „Domspatz“ bei Weber gemeldet hat, wäre der Abschlussbericht ohne den Archivfund um einen Täter geringer ausgefallen.

Hier wird eine strukturelle Problematik in der Daten- und Quellengrundlage des Ermittlers Webers deutlich: Opfer, die sich nicht melden konnten oder wollten und auch nicht von anderen Personen detailliert genannt wurden bilden sich im Abschlussbericht nicht ab. Die Verwaltungspraxis der Institution und Diözese schützt also ihre Täter immer noch, sie dürfte nicht wenige Betroffene in existenzielle Nöte gebracht, wenn nicht retraumatisiert haben.

7. Diskriminierung von Homosexuellen

Der Abschlussbericht definiert sexuelle Gewalt gegenüber Kindern als „alle sexuellen Handlungen, die an oder vor einem Kind vorgenommen werden und in denen der Täter seine Macht- und Autoritätsposition ausnutzt, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.“ Auch anzügliche Blicke, verbale Belästigungen und Diskriminierungen „aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung zählen als Formen sexualisierter Gewalt“. (S.18)

Die dogmengleiche Haltung der katholischen Lehre gegenüber (gelebter) Homosexualität wird von den Berichterstattern nicht angesprochen. Ebenso wenig das diskriminierende Klima, das bis in die Direktorenzeit des jetzigen Schulleiters, Berthold Wahl, dazu führte, dass schwule und/ oder lesbische Lehrkräfte aus dem Lehrerkollegium gedrängt worden sein sollen, oder das Haus entnervt verlassen haben. Unserer Redaktion liegen entsprechende Informationen vor. Die Besonderheit eines extraordinären katholischen Arbeitsrechts würde es auch erlauben, homosexuelle Angestellte ohne Weiteres zu entlassen. Geschieht dies auch mit Schülern?

Laut dem Leitbild der „Institution Domspatzen“ soll „Schülern, auch wenn sie nicht von Haus aus christlich geprägt sind,“ womöglich Fähigkeiten „zum bewussten Vollzug des Glaubens in Gebet und Gottesdienst, im Dienst am Menschen“ vermittelt werden. Heißt das, Schüler sollen im Vollzug des Glaubens auch homosexuelle Mitschüler ausgrenzen? Das Leitbild schweigt sich darüber aus, was in der Schwulenszene vielfach und seit Jahren kommuniziert wird: Als homosexuell geoutete oder verdächtigte Schüler würden demnach von Mitschülern, Lehrern und Personal diskriminiert; zur menschlichen Entwicklung gehörender körperlicher Kontakt unter Internatszöglingen werde als schwule Praxis kritisch beäugt, wenn nicht im Sinne der katholischen Glaubenslehre verhindert oder gar verfolgt.

Der Vorstand der Regensburger Schwulen- und Lesbeninitiative (RESI), die gegen die Diskriminierung von Homosexualität eintritt, begrüßt gegenüber unserer Redaktion den vorliegenden Domspatzen-Bericht, da dieser den „Opfern bei der Bewältigung ihrer Schmerzen zumindest helfen kann“. Scharf kritisiert wird hingegen seitens des RESI-Vorstands, dass der Bericht nicht eingehe auf die Lebensrealität von Jungen, „die bemerken, dass sie homosexuell empfinden und in dieser schwierigen Lebenslage sich an niemanden wenden können“. Diesen Jungen raube man einen Teil ihrer Kindheit und Jugend, wenn ihre Empfindungen oder Homosexualität generell diffamiert werden. Der RESI-Vorstand beklagt weiter, dass im Bericht „Pädophilie“ nicht von „Homosexualität“ abgegrenzt werde.

Obwohl der Bericht von Weber und Baumeister den Anspruch formuliert, auch die spezifischen Bedingungen eines katholischen Schulinternats zu untersuchen, wird darauf nicht eingegangen. Insbesondere fehlt im Bericht die Problematisierung der im katholischen Leitbild implizit enthaltenen (und auch von Bischof Voderholzer vorgetragenen) homophoben Haltung, die laut eigenen Kriterien als Diskriminierung und sexualisierte Gewalt anzusprechen wäre. Hier haben die Berichterstatter ihre eigenen Kriterien ignoriert.

Homosexuell ist nicht gleich pädophil

Hoch problematisch ist es, dass es die Berichterstatter unterlassen, begrifflich zwischen Homosexualität und Pädophilie zu unterscheiden. Vielmehr reproduzieren sie die homophoben Pseudoerklärungen ehemaliger geistlicher Verantwortungsträger, ohne dass irgendeine Klarstellung vorgenommen wird. So heißt es etwa resümierend über den Mehrfachtäter und Präfekten J. (= Sturmius W.): „Damalige Mitarbeiter und Verantwortungsträger äußern zwar Kenntnisse von seiner Homosexualität und teilweise eigenartigen Verhaltensweisen, jedoch betonen sie durchwegs, von sexuellen Übergriffen nichts mitbekommen zu haben.“ (S. 371)

Der im Bericht zitierte Verantwortungsträger „668“ gibt beispielsweise an: Die Neigung des Präfekten J., der kurz zuvor mit der Begründung, er sei homophil veranlagt, aus dem Regensburger Priesterseminar entlassen wurde, sei schon bekannt gewesen, „auch während seiner Zeit bei den Domspatzen als Präfekt.“ Unverkennbar versucht ein solcher Konnex die vom Präfekten J. ausgeübten sexuellen Straftaten (nachträglich) in einen kausalen Zusammenhang mit dessen angeblicher Homosexualität zu stellen.

Der Vollständigkeit halber sei festgehalten, dass auch deutsche Gerichte sexuelle Missbrauchstäter lange Zeit als „homosexuell“ bezeichneten und unter anderem gemäß dem unseligen § 175 verurteilten: „homosexuell“ und „Unzucht“ mit Abhängigen, Kindern und Männern heißt es etwa im Urteil gegen den oben erwähnten ehemaligen Internatsleiter Friedrich Zeitler, der mindestens über zwanzig Jahre hinweg Domschüler sexuell missbrauchte und im April 1959 zu drei Jahren Haft verurteilt wurde.

Eine Studie, die sexualisierte Gewalt aufklären und dokumentieren will, hätte dieses homophobe Ideologie aufgreifen, einordnen und deutlich zurückweisen müssen. Dennoch: Die Schilderung der Betroffenen, die der Präfekt Sturmius W. für seine sexuellen Interessen emotional an sich band und missbrauchte, gehören zu den eindrücklichsten Abschnitten des Berichts (S. 183 – 189), nicht zuletzt, weil darin auch das Ausgeliefertsein und die unterschiedlichsten Umgangsversuche der Betroffenen deutlich werden.

Die Debatten um Homosexualität und schwule Priester in der katholischen Kirche sind omnipräsent und teils bemerkenswert. Der Kapuzinerpater Herman van de Spijker etwa, der in seiner theologischen Abhandlung „Die gleichgeschlechtliche Zuneigung“ (1968), gegen die Diskriminierung von Homosexuellen und Homophilen anschrieb, brachte die auf homophober Ideologie basierenden Pseudoerklärungen bereits vor 50 Jahren kritisch auf den Punkt: „…während man den heterosexuellen Kindesvergewaltiger nur als eine unglückliche Ausnahme“ (S. 39) betrachte, gelte der homosexuelle Mann, der ein Jungen missbraucht, als „als Stellvertreter seiner Gruppe“.

8. Sensibilisierung oder katholisches Krisenmanagement?

Obwohl die Berichterstatter Weber und Baumeister für die zwischenzeitlich in den Domspatzen-Einrichtungen eingeführten Präventionsmaßnahmen keine inhaltliche Bewertung abgeben wollten, tun sie genau dies mit einem positiven Ergebnis.

Als Beleg für eine angeblich schon vor 2010 gelungene Sensibilisierung der Verantwortlichen dienten dem Bericht der Umgang mit Vorfällen im Internat aus dem Jahr 2002, als „ein minderjähriger, strafunmündiger Schüler gegenüber gleichaltrigen Mitschülern sexuell gewalttätig“ geworden sein soll. (S. 423) Damals habe das Internat, so der Bericht, eine adäquate Reaktion gezeigt: die Kriminalpolizei sofort ins Haus geholt, die Eltern der Opfer informiert, die Schulpsychologin habe Täter und Opfer betreut und abschließend seien alle Eltern der entsprechenden Jahrgangsstufe informiert worden. Auf Basis dieses Vorfalls seien „in den Folgemonaten und -jahren Handlungspläne bei Missbrauchsverdacht erstellt, Aufklärungsprojekte für die Schüler konzipiert, Verhaltensrichtlinien für Aufsichtspersonal vorgegeben und Präventionskonzepte eingeführt“ worden. (S. 423) Ebenso regelmäßige themenspezifische Fortbildungen für die Mitarbeiter.

Stutzig macht, dass die Berichterstatter nicht einmal erwähnen, dass dieses Konzept hausintern von in die Vorfälle dienstlich verstrickten Personen erarbeitet wurde: namentlich dem Chormanager Christof Hartmann, dem Internatsleiter Rainer Schinko und der Schulpsychologin Gudrun R.

Die Berichterstatter Weber und Baumeister folgen in ihrer diesbezüglichen Darstellung ausschließlich den Angaben und Unterlagen der Internatsleitung der Domspatzen, Gespräche mit den diesbezüglichen Betroffenen und dem tatsächlichen oder vermeintlichen Täter wurden offenbar nicht geführt. Die Zahl der Opfer des strafunmündigen Täters wurde nicht in die Statistik des Berichts aufgenommen.

13jähriger als „Sündenbock“?

Im Bericht wird zudem verschwiegen, dass der als sexueller Gewalttäter bezeichnete Junge, geboren 1988 und seit Herbst 2001 Internatszögling, erst zum „Täter“ abgestempelt und dann der Schule verwiesen wurde, obwohl beteiligte Schüler und Stimmen aus dem Personal von einem freiwilligen, eher spielerischen sexuellen Umgang zwischen den beteiligten Jungen gesprochen haben sollen.

Eine Person aus dem seinerzeitigen Personal des Schulinternats berichtete gegenüber regensburg-digital, dass der damals neue geistliche Internatsleiter Rainer Schinko, der ab September 2001 die laxen Verhältnisse unter seinem Vorgänger, dem Priester Matthias E., auf Linie bringen sollte, vor allem am Ruf seines Hauses interessiert gewesen sei und daran, dass von den Vorfällen ja nichts an die Öffentlichkeit dringe. Da genaue Details nicht vorliegen und der Ablauf auch intern unterschiedlich gesehen und bewertet wurde, muss die Frage offenbleiben, was genau geschah und ob es eine adäquate Reaktion darstellt, einen 13jähriger als Missbrauchstäter gegen mehrere Gleichaltrige einzustufen und ihn dann vom Schulinternat auszuschließen.

Problematisch erscheint hierbei vor allem, dass die Berichterstatter den fraglichen Umgang der Internatsleitung mit einem strafunmündigen Schüler als positives Beispiel herausheben, ohne die zugrundeliegende Sachlage offenzulegen und die Maßnahmen im Einzelnen dargelegt zu haben. Da sexualisierte Gewalt zwischen Schülern explizit nicht zum Auftrag der Studie gehört und ansonsten auch nicht untersucht wurde, scheint es sich bei dieser positiven Bewertung um eine Gefälligkeit gegenüber dem Auftraggeber handeln. Andere Beweggründe oder ein nennenswerter Erkenntnisgewinn für die Studie und seine Leserschaft sind jedenfalls nicht ersichtlich.

Hausverbot und Abmahnung wegen sexualisierter Gewalt?

Weitere Beispiele für einen „Wandel im Umgang mit sexueller Gewalt“ zeigten sich für die Berichterstatter angeblich sehr deutlich bei der Auswertung des Archivmaterials: etwa bei „Entlassungsandrohungen und Elterninformationen bei unnatürlicher Nähe von Domspatzen zu jüngeren oder gleichaltrigen Schülern oder einer vollzogenen Entlassung bei einem übergriffigen Schüler“, oder bei einem Hausverbot für unter anderem ehemalige Domspatzen. (S. 423) Auch diese Beispiele gehören nicht zum eigentlichen Auftrag, der auf Täter innerhalb des Erziehungspersonals begrenzt ist. Ob die Begrifflichkeit „unnatürliche Nähe“ von der Internatsleitung übernommen wurde, oder von den Berichterstattern stammt, konnte nicht geklärt werden – die fragliche Wirkung bleibt die gleiche.

Besonders problematisch ist, dass die Berichterstatter als Beleg für einen angeblichen Wandel im Umgang mit sexuellem Missbrauch die Abmahnung und Kündigungsandrohung eines Mitarbeiters des Musikgymnasiums anführen. Diese seien aufgrund seines Verhaltens im privaten Bereich, sprich nach einem „Verstoß gegen die katholische Glaubens- und Sittenlehre“ ergangen. (S. 424)

Der Bericht deutet diese Androhung als „zielgerichtetes und konsequentes Vorgehen“. Was damit gemeint ist, wird in einer Fußnote angedeutet: „Es handelte sich hierbei um den Betrieb einer privaten Homepage mit sexuellen Inhalten.“ An dieser Stelle stellen sich zwei Fragen: Wenn auf dieser Homepage strafbare Inhalte verbreitet oder konsumiert wurden, warum hat man den besagten Mitarbeiter nicht sofort entlassen? Oder, die gegenteilige Variante: wenn KEIN strafbarer Inhalt verbreitet oder konsumiert wurde, warum haben die Berichterstatter diesen Vorgang überhaupt unter dem Motto „zielgerichtetes und konsequentes Vorgehen“ gegen sexualisierte Gewalt aufgenommen?

Soweit sich der Sachverhalt von außen recherchieren lässt, handelt es sich bei dem besagten Mitarbeiter um den Chorleiter M., der 2006 als 39jähriger plötzlich eines natürlichen Todes gestorbenen ist. M. war selber von 1977 bis 1986 Internatsschüler bei den Domspatzen (nur in Regensburg) und soll sich bereits als solcher zu seiner schwulen Orientierung bekannt haben, wie jemand aus dem kirchlichen Umfeld unserer Redaktion mitteilte. Nach seinem Musikstudium, unter anderem an der Kirchenmusikhochschule bei Roland Büchner, kam er 1992 ans Domgymnasium als Chorleiter zurück.

Soweit bekannt gab und gibt es gegen M. hinsichtlich sexuellen Missbrauchs oder dem Besitz kinderpornographischer Filme keinerlei Beschuldigungen, auch der Bericht von Weber und Baumeister erhebt gegen ihn offensichtlich keine diesbezüglichen Vorwürfe. Die oben erwähnte Homepage dürfte vielmehr zur Kontaktaufnahme im schwulen Umfeld gedient haben. Wer M. bei seinem Arbeitgeber, der Domspatzen-Stiftung, denunzierte, ist unbekannt.

Zusammenfassend ist festzuhalten: M. wurde nach Stand der Dinge wegen seiner sexuellen Orientierung abgemahnt, die Aufnahme in den Abschlussbericht über die Vorfälle von Gewaltausübung bei den Domspatzen ist irreführend und unangebracht – insbesondere die hierbei verteilte positive Bewertung für das Handeln der Internatsleitung.

Wer detailliert in den Abschlussbericht gehört hätte, ist der ehemalige Domspatzen-Schüler und verurteilte Missbrauchstäter Christian F..

9. Der Domspatz Christian F. – ein Regensburger Tabu?

Das bereits erwähnte Hausverbot für ehemalige Domspatzen bezieht sich, soweit erkenntlich, auch auf den im November 2016 verurteilten Christian F. (S. 423). Dieser wurde nach Geständnissen wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs von Mitschülern, wegen dem Besitz von sogenannten kinderpornographischen Filmen und wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu zwei Jahren Bewährungsstrafe verurteilt.

Diese Straftaten waren Zufallsfunde im Zuge der seit 2012 gegen F. laufenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlung wegen Verdachts auf Tötung seiner damaligen Verlobten Maria Baumer. In diesem Zusammenhang klagte die Staatsanwaltschaft den approbierten Krankenpfleger F. unter anderem an, weil er eine ehemalige Patientin von ihm verfolgt und sexuell missbraucht haben soll, nachdem er sie mit Medikamenten wehrlos gemacht habe. Darüber hinaus fanden die Ermittler 2013 Filmmaterial mit sexuellen Handlungen zwischen F. und einem ehemaligen Domspatzen-Mitschüler unter 14 Jahren. Ein weiterer von Christian F. missbrauchter „Domspatz“ konnte daraufhin von der Kripo ermittelt werden. 

Soweit bekannt, wurde erst nach dieser staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen F. von der Internatsleitung im Jahre 2013 das von den Berichterstattern ausdrücklich positiv gewürdigte Hausverbot ausgesprochen. Zuvor hatte die Internatsleitung gegen Christian F. offenbar nichts unternommen.

Obwohl die Staatsanwältin des Prozesses von 2016 Christian F. als „Kindergärtner der Domspatzen“ bezeichnete, grenzte sie die Causa F. mehrfach ausdrücklich von dem laufenden Aufklärungsprozess des Rechtsanwalts Ulrich Weber ab. 

Weil der Schüler F. nicht zu der zu überprüfenden Gruppe, dem Personal, gehört habe, gehöre er auch nicht zur Domspatzen-Affäre, so die etwas beschränkte Logik.

Der vorliegende Domspatzen-Abschlussbericht setzte sich mit der Causa F. mit der gleichen Begründung, F. sei Schüler und kein Personalmitglied gewesen, genauso wenig auseinander, würdigt aber dennoch das Hausverbot von 2013 gegen F. als „zielgerichtetes und konsequentes Vorgehen“. Ob Christian F. dabei, wie zu erwarten wäre, als homosexueller Täter eingestuft wurde, ist unbekannt. Im öffentlichen Diskurs wird er nicht als solcher bezeichnet, vermutlich weil er zur Tatzeit mit seiner weiblichen Verlobten zusammenlebte und weil wegen deren gewaltsamen Todes gegen ihn ermittelt wird.

Den Kosenamen „Kindergärtner der Domspatzen“ bekam Christian F., weil er sich als Tutor in den Einrichtungen des Domchors außergewöhnlich um die „Kleinen“ gekümmert habe. Zum Zeitpunkt seines Abiturs (Sommer 2004) hatte Christian F. bereits mehrere Neulinge unter den Domspatzenschülern emotional an sich gebunden und – laut Geständnis – einen von ihnen außerhalb der Einrichtungen sexuell missbraucht.

Sein Vorgehen blieb innerhalb der Schülerschaft nicht unbemerkt. In der regensburg-digital vorliegenden Abiturzeitung, Absolvia 2004, konstatiert der Mitschüler „Uli“, dass das Engagement von Christian F. „für die kleinen Domspatzen bemerkenswert“ sei und viele seiner „charakterlichen Vorzüge“ widerspiegle. Selbstlos bringe er, F., einen beträchtlichen Teil seiner „Zeit für das Wohl anderer auf, ohne groß nach einem ‚Wofür‘ zu fragen“.

„Zörni & Joe“ porträtieren Christian F. folgendermaßen: Er sei „wohl der einzige, der es vermag die gesamte Unterstufe beim Namen zu nennen“ und mit den Kleinen sogar kommuniziere. Er sei „stets präsent“ gewesen, „und das auch spät nachts noch, wenn längst alles schlief.“ „Nach einer durchzechten Nacht“ sei er als erster wieder fit gewesen. Offenbar übernachtete der Tutor F. im Internat, obwohl ihm, einem zuhause nächtigenden Stadtschüler, dies gemäß des von Direktor Rainer Schinko erstellen Präventionskonzepts und der gültigen Hausordnung verboten gewesen wäre. In der Folge wurde das Präventionskonzept von 2003 hinsichtlich potentieller, von außen kommenden erwachsenen Täter überarbeitet.

Hätten die Berichterstatter Weber und Baumeister ihren Auftrag nicht so eng sondern dem Thema angemessen etwas weiter gefasst, hätten sie die Handlungen von Christian F. in seiner Funktion als Tutor, als Quasi-Angestellten, durchaus näher untersuchen müssen. Die vergebene Bewertung, die Leitung des Domspatzen-Internats habe in der Causa F. „zielgerichtetes und konsequentes Vorgehen“ gezeigt, wäre dann etwas weniger gefällig ausgefallen und das entsprechende Präventionskonzept bzw. die Herangehensweise wohl mit „mangelhaft“ zu bewerten gewesen.

Weber: „Springe in ein Becken, dessen Tiefe ich nicht kenne“

Über zwei Jahren nachdem Rechtsanwalt Ulrich Weber in ein Becken sprang, dessen Tiefe er nicht kannte, ist er mit einem herausragenden Abschlussbericht aufgetaucht. Auch wenn eine abschließende Einordnung des Berichts von Ulrich Weber und Johannes Baumeister noch nicht möglich ist, dürfte der Bericht einen Meilenstein im noch laufenden Aufklärungs- und Aufarbeitungsprozess darstellen. Seine Bedeutung ist umso höher zu bewerten, da seine diözesanen Auftraggeber mit ihren zeitlichen, örtlichen und personellen Einschränkungen bezogen auf die Domspatzen-Einrichtungen offenbar keine umfassende Aufklärung angestrebt, sondern eher einen Befreiungsschlag und wohl eine taktische Befriedung der öffentlich aufgetretenen Betroffenen angestrebt haben. Die Aufklärung aller, teils intern längst bekannter, sexuellen Übergriffe bzw. die quantitative Ermittlung von allen sexuell missbrauchten Domspatzen wurde per Auftragsbeschränkung nicht ermöglicht, sondern bewusst vermieden. Ebenso durch den fehlenden Zugang zum bischöflichen Geheimarchiv. Vor allem mit diesen Einschränkungen setzten die Auftragsgeber Rechtsanwalt Weber bewusst in eine Zwickmühle, die Spuren hinterlassen hat.

An hier besprochenen Beispielen und Aspekten sollte deutlich werden, dass die Berichterstatter teilweise zur Gefälligkeit oder zumindest unkritischen Übernahme von Darstellungen ihrer Auftraggeber neigten. Deutlich wurde zudem, dass alle Präventionskonzepte der Domspatzen und ihre auf Vertuschung basierende öffentliche Anpreisung überprüft gehören und, dass dies nicht ohne Beauftragung externer Fachleute und die offene Kommunikation aller relevanten Hintergründe möglich ist.

Der Bericht von Ulrich Weber und Johannes Baumeister hätte jedenfalls das Potential für eine grundsätzliche Hinterfragung der bisherigen Konzepte und beschönigenden Sprachregelungen, die bis in diese Tage aus der Institution der Domspatzen und aus dem bischöflichen Ordinariat zu hören sind. Es liegt an den jeweils Verantwortlichen es zu nutzen.

 




.


Any original material on these pages is copyright © BishopAccountability.org 2004. Reproduce freely with attribution.