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Pater spricht über sexuellen Missbrauch an Achtjährigem

Focus
August 20, 2017

http://www.focus.de/politik/experten/habe-schreckliche-sachen-mit-ihm-gemacht-pater-spricht-ueber-sexuellen-missbrauch-an-achtjaehrigem_id_7489180.html


Das Buch von Daniel Pittet ist im Herder-Verlag erschienen

Konkrete Summen sollen im März bekanntgegeben werden.

[with video]

[Pope Francis wrote the foreword to the book. Papst bittet Missbrauchsopfer um Vergebung - Bild]

[For four years Daniel Pittet was raped as a young boy by a Capuchin monk and even forced to view porno films. Pittet has written a book on this martyrdom.]

Vier Jahre lang wurde Daniel Pittet als kleiner Junge von einem Kapuzinermönch vergewaltigt und sogar zu Porno-Aufnahmen gezwungen. Pittet hat ein Buch über dieses Martyrium geschrieben. Das Ende des Buches bildet ein Interview mit Pittets Peiniger. FOCUS Online veröffentlicht das Gespräch in Auszügen.

Daniel Pittet war der Überzeugung, dass eine Aussage seines Schänders einen interessanten Beitrag zur Aufklärung leisten könne, heißt es in seinem Buch. Ihn persönlich zu treffen lehnt er aber ab. Das Gespräch führte die Co-Autorin des Buches, Micheline Repond.

M.R.: Pater, Sie haben sich bereiterklärt, uns zu treffen und über den Missbrauch zu sprechen, den Sie an Daniel begangen haben. Warum?

J.A.: Ich würde sagen ... Ich glaube, dass ich das Bedürfnis hatte ... nicht es auszuradieren, aber um die Situation anzunehmen. Nicht Gott muss ich in erster Linie um Vergebung bitten, sondern meine Opfer. Deshalb habe ich mich entschieden, dass ich einem Treffen oder einer Aussage zustimme, wenn eines von ihnen mich darum bittet. Wie soll ich sagen ... Für mich ist es so, als würde ich eine Schwelle überschreiten.

Im Übrigen möchte ich meine Taten eingestehen. Ich kann Ihnen versichern, dass das wirklich nicht leicht ist. Ich durchlebe Momente der Angst, der Depression, der Verzweiflung ... Die letzten Monate waren sehr schwer. Zu meinen gesundheitlichen Problemen kamen die Erinnerungen ... Meine Vergangenheit holt mich ein, steigt in mir auf ... Ich habe die Bilder von all diesen Kindern vor Augen, all diesen jungen Menschen ... Und ich sage mir, dass ich an einem Massaker teilgenommen habe. Ja, ich habe am Massaker der Unschuld teilgenommen. Heute weiß ich, dass die Vergebung, oder besser die Versöhnung nur durch ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht, durch den wörtlichen oder schriftlichen Austausch mit meinen Opfern stattfinden kann.
Daniel Pittet - "Pater, ich vergebe Euch!"

Vier Jahre lang wurde Daniel Pittet als kleiner Junge von einem Kapuzinermönch vergewaltigt und sogar zu Porno-Aufnahmen gezwungen. Pittet hat ein Buch über dieses Martyrium geschrieben - mit Unterstützung des Papstes. FOCUS Online veröffentlichte das Vorwort von Papst Franziskus.

 

Daniel Pittet wurde 1959 in der französischen Schweiz geboren. Erst nach Jahren wagte er den Schritt in die Öffentlichkeit. Heute arbeitet er in Fribourg als Bibliothekar und ist Vater von sechs Kindern. Pittets Geschichte ist nicht nur die Geschichte eines unmenschlichen Leidens, sondern auch die einer unglaublichen Stärke: Er hat seinen Glauben nicht verloren und seinem Peiniger sogar vergeben. Das Buch ist unter dem Titel "Pater, ich vergebe Euch!" im Herder-Verlag erschienen.

"Leider kann ich mich nicht mehr erinnern"

M.R.: Ist es das erste Mal, dass Sie sich öffentlich auf diese Weise äußern?

J.A.: Ich habe mit meinen Psychiatern über meine Taten gesprochen – ich bin noch in Behandlung, müssen Sie wissen – und mit meinen Vorgesetzten in der Hierarchie. Aber noch nie mit jemandem außerhalb meines persönlichen Umfelds. Ich glaube, ich habe das Bedürfnis, ein wenig Licht in die Situation zu bringen und anzuerkennen, dass ich Unrecht getan habe, ganz einfach. Ich habe versucht, einige der Opfer ausfindig zu machen, aber es stellte sich als sehr schwierig heraus ... Leider kann ich mich nicht mehr erinnern.

Als Monsignore Morerod mich kontaktierte, um mir zu sagen, dass Daniel in einem Buch über seine Geschichte Zeugnis ablegen wollte, muss ich zugeben, einen Moment gezögert zu haben. Das war gar nicht so einfach ... Aber nach gründlicher Überlegung habe ich der Anfrage zugestimmt. Meine Vorgesetzten zeigten sich offen. Mein Psychiater fand die Idee interessant, zumal er nie zuvor von einer solchen Vorgehensweise gehört hatte. Nachdem meine Entscheidung gefällt war, bekam ich zwar Angst, aber ich war auch erleichtert. Heute schwanke ich, ich bewege mich auf dünnem Eis. Zuweilen geht es mir gut, weil ich ein Hobby habe, ich fotografiere. Ich spaziere durch die Stadt, gehe in den Wald oder bleibe im Klostergarten. Doch dann, ganz plötzlich, geht es mir schlecht. Ich bin bipolar, wie man in der Psychiatrie sagt. Oft sehe ich einfach nur schwarz.

M.R.: Daniel erwartet von Ihnen nur eines. Er hat mir gesagt: "Ich wünsche mir, dass er ehrlich ist." Die Wahrheit liegt ihm sehr am Herzen, er muss sich sicher sein, dass Sie ehrlich sind. Sind Sie dazu in der Lage?

J.A.: Ich werde versuchen so ehrlich wie möglich zu sein.
"Seit meiner Kindheit habe ich eine homosexuelle Neigung gespürt"

M.R.: Was auf ihrem persönlichen Weg hat Sie dazu gebracht, so viele Kinder zu missbrauchen?

J.A.: Das ist die Grundfrage, die mich ununterbrochen beschäftigt. Ich denke an nichts anderes. Bis heute weiß ich es nicht, ich habe keine Antwort gefunden. Seit meiner Kindheit habe ich eine homosexuelle Neigung gespürt, so viel ist klar. Aber warum mit Kindern? Warum ich? Warum ...? Ich weiß es nicht. (Schweigen) Ich denke, dass ich irgendwie so tat, als würde ich es nicht sehen ... Wenn ich spürte, dass gewisse Dinge in mir aufstiegen, sagte ich mir: "Was du da tust, ist schrecklich!" Dieses Bewusstsein hielt eine Weile vor, dann fing es von vorne an.

M.R.: Dennoch haben Sie Daniel oft erzählt, dass Sie selbst von einem Priester "sexuell eingeführt" wurden.

J.A.: Nein. Das stimmt nicht.

M.R.: Das haben Sie ihm aber erzählt ...

J.A.: Zögern ... Ich hatte einen Kumpel ... ja, einen Freund in meinem Alter, mit dem ich eine sexuelle Beziehung hatte. Ich war elf, zwölf Jahre alt. Diese Beziehung hatte etwas von Sexspielen ... Ich war wirklich verliebt in diesen Jungen ... (Schweigen) Habe ich Daniel von dieser Beziehung erzählt? (Schweigen) Ich kann mich nicht erinnern.
"Ich hatte schon in der Oberschule sexuelle Beziehungen zu Klassenkameraden"

M.R.: Ich möchte, dass Sie mir, wenn das möglich ist, die Umstände erklären, unter denen Sie das erste Mal zur Tat schritten. Haben Sie sich die Vergewaltigung lange vorher ausgemalt, bevor Sie sie dann in die Tat umsetzten? Haben Sie moralische Bedenken gehabt? Was hat Sie dazu gebracht, umzukippen?

J.A.: Mein Gedächtnis ist ein einziges Chaos ... Ich habe Probleme mich zu erinnern ... (Schweigen) Der erste ...? Ich kann mich nicht erinnern. Ich hatte schon in der Oberschule sexuelle Beziehungen zu meinen Klassenkameraden. Aber das erste Mal... Ich erinnere mich nicht.

M.R.: Sie können sich nicht an den Moment erinnern, in dem Ihnen die Sache entglitt, an den Moment, in dem Sie es ...?

J.A.: Nein, ich weiß es nicht mehr ... (Schweigen) In der Oberschule hatte ich sexuelle Beziehungen zu meinen Altersgenossen. Anfangs waren die Jungen genauso alt wie ich. Dann wurde ich größer, aber meine Partner hatten immer dasselbe Alter. Ich wurde immer älter, aber sie blieben sehr jung. Sie waren nie älter als dreizehn. Warum dieses Alter? Das ist die Frage. Der Abstand zwischen meinen Partnern und mir wurde immer größer. Ich wurde alt, aber meine Opfer blieben jung.

M.R.: Sie sprechen von Opfern. Hielten Sie sie damals auch schon für Opfer?

J.A.: Nein, überhaupt nicht. Das Wort Opfer kam später, als die Wirklichkeit meiner Taten in der Presse bekannt wurde. Damals hatte ich andere Wörter im Kopf, die ich nicht aussprach. Aus Unwissenheit? Ich habe keine Ahnung. In meinem Kopf geht alles durcheinander.

M.R.: In Ihrem Kopf geht viel durcheinander?

J.A.: Ja, ja, ich weiß nicht mehr genau, wo ich stehe ... (Langes Schweigen)
"Ich habe so schreckliche Sachen mit ihm gemacht"

M.R.: Welche Erinnerungen haben Sie an Daniel?

J.A.: Ich habe nur wenige. Es ist so lange her ... Fast fünfzig Jahre. Ich erinnere mich an einen Jungen, der ... wie soll ich sagen ... ich will nicht sagen verschlossen ... jedenfalls war er nicht gerade redselig ... (Schweigen) Es ist seltsam, ich kann mich erinnern, dass Daniel am Anfang ins Kloster kam... und ganz plötzlich sagte er mir, dass er nicht mehr kommen will. Ich habe ihm gesagt: "Gut, einverstanden." Daran erinnere ich mich. Und dann habe ich jede Beziehung zu ihm abgebrochen. (Schweigen) Heute macht mir Daniel Angst ... Ich habe so schreckliche Sachen mit ihm gemacht, und jetzt hält er mir eine Wirklichkeit vor Augen, die ich geschehen ließ, an die ich lange nicht gedacht habe ... (Schweigen) Es ist schrecklich ...

M.R.: Ist es so, als hätten Sie keine oder nur wenige Erinnerungen an das, was Sie getan haben?

J.A.: Ja, so ist es. Ich habe große Gedächtnislücken, ich bin ganz verwirrt ...

M.R.: So als wenn es Ihnen, wenn Sie Ihr Gedächtnis verlieren und sich nicht mehr an die schrecklichen Taten erinnern, die Sie begangen haben, helfen würde, ein normales Leben zu führen.

J.A.: Nein, ich würde nicht sagen, dass mir das hilft besser zu leben. Eine Zeit lang habe ich an Suizid gedacht. Aber ich habe mich entschieden, nicht zu sterben, weil ich gewissen Leuten und Feinden von mir nicht den Gefallen tun wollte. Ich spreche nicht von meinen Opfern, sondern von anderen Leuten, einigen Mitgliedern meiner Familie zum Beispiel, die denken würden: "Ah, dieser Dreckskerl, endlich ist er krepiert!" Aus diesem Grund habe ich mich nicht umgebracht. (Nervöses Lachen.) Das ist nicht ganz in Ordnung ... (Schweigen)
"Es ist unerträglich"

M.R.: War Ihnen von Anfang an bewusst, dass das, was Sie den Kindern angetan haben, sträflich und schrecklich war oder war es erst notwendig, dass Daniel Sie anzeigt?

J.A.: Nein, ich bin mir meiner Taten bewusst, es ist unerträglich. (Schweigen) Warum? Früher habe ich mich nach einer Beziehung oft gefragt: "Oh mein Gott, was hast du angerichtet?" Ich stellte mir diese Frage, ich dachte sogar daran, mich therapieren zu lassen ... Aber ich habe mich zu sehr im Kreis gedreht ... Ich kann mich an den Tag erinnern, an dem ich zum ersten Mal in die Psychiatrie ging. Ich lief zu Fuß durch die Stadt. Ich wusste nicht mehr, wohin ich gehen sollte. Plötzlich sah ich ein Schild, auf dem stand: "Klinik". Ich dachte: "Dahin gehe ich." Ich stürzte förmlich die Straße entlang, fing an zu weinen und weinte und weinte, dann ging ich in die Notaufnahme und sagte zu der Krankenschwester, die mich aufnahm: "Ich bin pädophil, können Sie mir irgendwie helfen?" Von diesem Tag an habe ich angefangen ... wie soll ich es ausdrücken ... den Stall auszumisten.

M.R.: Ist das lange her?

J.A.: Ich war noch in Frankreich. Es muss mehr als zehn Jahre her sein, aber ich hatte schon viel früher das Bedürfnis, mich in Behandlung zu begeben. Ich habe mir Adressen von Ärzten besorgt ... Ich war damals sehr beschäftigt und ich glaube, dass ich mich nicht getraute, diesen Schritt zu gehen. Ja, das ist es möglicherweise.

M.R.: Was hat Sie daran gehindert, den Schritt zu gehen?

J.A.: Was mich davon abgehalten hat? Die Tatsache, zugeben zu müssen, dass ich ein Monster bin. Das lastete auf mir ... Diese letzten Jahre waren ein bisschen verrückt für mich ... (Er atmet keuchend) Aber es ist nach wie vor schwer.

(...)

M.R.: Und Sie erkennen sich in diesem Menschen wieder?

J.A.: Ja, ja ...

"Ich bin dieser monströse Pädophile, der eine Serie von Opfern hinterlassen hat"

M.R.: Oder sagen Sie nur, dass Sie ein Monster sind und erkennen sich selbst nicht wieder?

J.A.: Doch, ich erkenne mich wirklich darin wieder. Das Monstrum bin ich ... Ich bin dieser monströse Pädophile, der eine Serie von Opfern hinterlassen hat ... Es ist abstoßend ... (Schweigen)

M.R.: Daniels Kindheitserinnerungen zufolge war er überrascht von der Doppelgesichtigkeit Ihrer Persönlichkeit. Sie hielten großartige Predigten in der Kirche und einen Moment später vergewaltigten Sie ihn in der Sakristei.

J.A.: Ja, ich war irgendwie schizophren, ich hatte zwei Persönlichkeiten.
"Ich bin gespalten"

M.R.: Haben Sie das damals so empfunden?

J.A.: Ja, und ich empfinde es heute immer noch so. Ich bin gespalten. Ein Teil von mir ist auch heute normal und ein anderer ist monströs. Ich bin mir dessen bewusst, was ich getan habe und ich sage mir: "Ist das denn überhaupt möglich?"

M.R.: Sie sagen, dass Sie sich gespalten fühlten. Bedeutet das, Sie haben einen Teil Ihrer Wirklichkeit verleugnet?

J.A.: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Ich habe die Sachen, die ich begangen habe, nie geleugnet. Ich habe nie etwas geleugnet, nein... Das ist seltsam...

M.R.: Wenn Sie nie etwas geleugnet haben, bedeutet das dann, dass der Drang zur Tat stärker war als das Bewusstsein, etwas Unrechtes zu tun?

J.A.: Ja, genau. So ist es. Es war stärker als ich, bis zu dem Moment, als ich sagte: "Das reicht!" Das war, als ich vor fünfzehn Jahren in die Psychiatrie ging. Mehrere Psychiater kümmerten sich um mich. Ich finde das schwierig, weil es bedeutet, ständig von vorn anzufangen. Ich habe oft dieselben Sachen gesagt. Mit meinem gegenwärtigen Psychiater versuche ich, einen Schritt nach vorn zu machen, eine Kontinuität herzustellen, die mir hilft, etwas klarer zu sehen.

(...)

Im weiteren Verlauf des Gesprächs erfährt der Leser, dass der Kapuzinerpater für seine Taten zu einer Haftstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt wurde – weil die meisten Missbrauchsfälle verjährt waren. Der Pater sagt, es hätte ihm eine Erleichterung verschafft, wenn er die Strafe hätte verbüßen können. Er könne seine Schuld gegenüber den Opfern nicht abbezahlen. Deshalb versuche er andere Lösungen zu finden. Das sei auch der Grund dafür, warum er eingewilligt habe, in dem Buch von Daniel Pittet Zeugnis abzulegen.

Die folgende Passage gibt das Ende des Gesprächs mit dem Pater wider:
"Wenn ich über den Missbrauch spreche, fühle ich mich erschöpft"

M.R.: Wie fühlen Sie sich am Ende dieses Gesprächs?

J.A.: Ich habe das Gefühl, als hätte ich eine Ohrfeige bekommen! Aber manchmal tun Ohrfeigen gut.

M.R.: Eine Ohrfeige? Wollen Sie damit sagen, dass Sie sich aufgerüttelt fühlen?

J.A.: Ja, jedes Mal, wenn ich über den Missbrauch spreche, fühle ich mich erschöpft. Es tut weh, aber ich spüre auch, dass es mir guttut, es ermöglicht mir, voranzukommen. Ich habe Ihre Fragen gern beantwortet, denn sie haben mir geholfen, einen klareren Blick auf mich selbst zu werfen.




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