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DAS Organisierte Tabu Der Ddr

By Doreen Reinhard
Zeit Online
October 11, 2017

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Sexuellen Missbrauch durfte es offiziell nicht geben in der DDR. Dabei gab es Tausende schwere Falle – in Familien, in Kinderheimen und Jugendwerkhofen des Systems.

Ein Pionierumzug zum 20. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik 1969 © Werner Schulze/imago

"Bis zu meinem elften Geburtstag war meine Kindheit ganz okay", sagt Renate Viehrig-Seger. "Mal abgesehen von der Prugel, die ich immer wieder von meinem Vater bekam." Gewalt und Missbrauch zogen sich durch ihre Kindheit und Jugend, so heftig, dass sie ganz eigene Kategorien fur das Ausma? entwickelt hat.

Renate Viehrig-Seger war ein Kind der DDR und in der gab es so gut wie keine Chance, dass Tragodien wie ihre an die Offentlichkeit gelangten. Dass ihr irgendwer zu Hilfe kam. Geboren ist sie 1959, aufgewachsen mit zehn Geschwistern, einem aggressiven Vater und einer Mutter, die vor allem weggeschaut hat. Als sie pubertierte, waren ihrem Vater Schlage nicht mehr genug. "Er holte mich nachts ins Wohnzimmer, um mich anzufassen. Im Raum daneben lag meine Mutter. Als sie ins Wohnzimmer kam, schnauzte mein Vater sie an, dass sie abhauen soll."

Renate Viehrig-Seger suchte Hilfe bei Amtern, aber niemand glaubte ihr. Sie begann, zu verzweifeln. "Ich wurde rabiat, habe geklaut und uber die Strange geschlagen." Immer wieder versuchte sie, von zu Hause abzuhauen, aber jedes Mal wurde sie von der Polizei wieder zu den Eltern zuruckgebracht. Irgendwann sagte ihre Mutter: "Es reicht, du gehst ins Heim."

Zunachst war dieser Weg fur das Madchen eine Erleichterung. "In dem Kinderheim, in das ich zuerst kam, gab es Ordnung, Sauberkeit, Struktur, so etwas kannte ich von zu Hause nicht." Bald darauf wurde sie jedoch in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau verlegt, der zu den schlimmsten Institutionen des Staates gehorte, gedacht zur "Umerziehung" nach sozialistischen Ma?staben.

Insgesamt 474 staatliche Kinderheime gab es in der DDR. Davon waren 38 sogenannte Spezialkinderheime und 32 Jugendwerkhofe, in denen jene Heranwachsenden verwahrt wurden, die als schwer erziehbar und verhaltensauffallig galten. Viele Kinder und Jugendliche haben dort die Holle erlebt. Im Jugendwerkhof Torgau wurde auch fur Renate Viehrig-Seger alles nur noch schlimmer. "Ich habe dort nachtlichen Besuch vom Direktor bekommen, der mich vergewaltigt hat." Als sie einem Erzieher davon erzahlte, bekam sie auch dort keine Hilfe, stattdessen zwei Tage Arrest, weil sie Lugen erzahlt habe.

Eine Gedenkstatte fur Missbrauchsopfer der DDR

Heute, knapp drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR-Diktatur, sitzt Renate Viehrig-Seger vor einem gro?en Publikum und erzahlt von ihrer Kindheit. Sie ist eine von vielen Betroffenen, die auf Einladung der Unabhangigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs nach Leipzig gekommen sind. Eine Tagung soll Aufmerksamkeit fur ein Kapitel schaffen, das 40 Jahre ein Tabu war. Und dann, als es moglich gewesen ware, daruber zu sprechen, zunachst kaum jemanden interessierte. Als Renate Viehrig-Seger eine Zusammenfassung ihrer eigenen Geschichte vom Tonband hort, kommen ihr die Tranen. "Ich kampfe immer noch mit mir selbst. Aber wenn keiner druber redet, passiert auch nichts."

Zum ersten Mal hat sie vor zwei Jahren die Tur zur Vergangenheit geoffnet. Dafur ist sie nach Torgau zuruckgekehrt, auf das Gelande des ehemaligen Jugendwerkhofs, wo heute eine Gedenkstatte untergebracht ist – und seit 2011 eine Selbsthilfegruppe fur Missbrauchsopfer der DDR, die erste und lange Zeit die einzige Anlaufstelle fur Betroffene aus Ostdeutschland, um uber ihre Erfahrungen zu sprechen. Erst jetzt ist es vielen Menschen moglich, uber das Erlebte zu sprechen, es zu verarbeiten.

Offiziell gab es sexuellen Missbrauch in der DDR nicht

Offiziell gab es sexuellen Missbrauch in der DDR nicht. So etwas kam im sozialistischen Staat nicht vor – zumindest nicht in dem Bild, dass man nach au?en abgab. "Dieses Thema wurde komplett ausgeklammert", sagt Marianne Birthler, ehemalige Bundesbeauftragte fur Stasi-Unterlagen. "Es gab hinter vorgehaltener Hand hochstens mal die diffuse Warnung, dass man nicht mit Fremden mitgehen sollte. Und irgendwann lief im Fernsehen auch mal ein Polizeiruf, in dem eine Frau vergewaltigt worden ist." Dabei kam es zu sexuellem Missbrauch uberall, in allen sozialen Schichten und Milieus, sowohl im familiaren Umfeld als auch in Einrichtungen des Staats, in Kinderheimen, aber auch bei der vermeintlich harmlosen Freizeitgruppe wie der Pioniereisenbahn. Weil alle schwiegen, waren Betroffene wie Renate Viehrig-Seger nicht selten einer Missbrauchskette ausgesetzt. Falls Tater uberhaupt belangt wurden, drohte ihnen nur geringe Strafen. Oft wurden diese auf Bewahrung ausgesetzt. Mitunter mussten die Tater einfach nur ihren Posten wechseln. Aus einem Lehrer, der Kinder missbraucht hatte, wurde der neue Leiter eines Kinderheims – es gab nicht selten eine unverantwortliche Fortsetzung von Leid.

Auch nach dem Mauerfall blieb das Thema lange im Dunkeln. Einen gro?en Schritt nach vorn hat nun die Unabhangige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs unternommen. Die erste Zwischenbilanz ihrer Arbeit: Vieles liegt tief begraben. Wenn man mit den Grabungen aber einmal begonnen hat, schaut man in unendlich viele Abgrunde. Grundsatzlich untersucht die Kommission die gesamtdeutsche Situation. Vor einigen Monaten legte man bereits einen ersten Zwischenbericht vor, in dem unter anderem festgestellt wurde, dass sexueller Missbrauch in Deutschland meist im familiaren Umfeld stattfindet. Die DDR wird von dem Gremium als Sonderforschungsbereich behandelt. "Es geht nicht darum, zu bewerten, in welchem Teil des Landes der Missbrauch schlimmer war", sagt Kommissionsmitglied Christine Bergmann.

Allerdings war und bleibt der sozialistische Staat ein Spezialfall. Das hat die Kommission auch an den Reaktionen auf ihre Arbeit gemerkt. Insgesamt haben sich schon weit uber 1.000 Betroffene gemeldet, etwa 400 Anhorungen wurden durchgefuhrt. Eine gro?e Resonanz also. Allerdings sind darunter verhaltnisma?ig wenige Menschen aus der ehemaligen DDR. Nur etwa 100 Meldungen gingen bisher ein. Und das auch nur, weil die Kommission diese Gruppe besonders intensiv adressiert. "Wir haben schnell gemerkt, dass sich diese Menschen nur sehr zogerlich melden und haben deshalb gesonderte Kampagnen und Aufrufe gestartet, um sie zu erreichen und zur Teilnahme zu bewegen", sagt Sabine Andresen, Vorsitzende der Kommission. "Die Betroffenen aus der ehemaligen DDR haben viel weniger Vertrauen in Institutionen. Fruher haben sie viel zu oft die Erfahrung gemacht, dass man ihnen nicht glaubt, nun haben sie sich zuruckgezogen."

Das Verschweigen war organisiert

Was unterscheidet Ost und West? Ist nicht Opfer gleich Opfer? Ja und nein, stellt Historiker Christian Sachse fest, der mit Kollegen eine ausfuhrliche Expertise zu Missbrauch in der DDR erarbeitet hat. "In beiden Teilen des Landes geht der Missbrauch quer durch alle Milieus und Schichten." Fur die DDR galt au?erdem: "Das Beschweigen war nicht nur ein Tabu, es war obendrein ein organisiertes Tabu. In dem sozialistischen Staat mit seiner sauberen Moral durfte so etwas einfach nicht passieren. Falls man von Missbrauch mitbekommen hat, sorgte der Staatsapparat dafur, dass sich solche Informationen nicht ausbreiten konnten. Dabei wurde auch erheblicher Druck ausgeubt."

Die Recherche war fur Christian Sachse und seine Kollegen oft schwierig, da in der DDR Missbrauchsfalle weder separat gelistet noch ausfuhrlich bearbeitet worden sind. Von den sparlichen Unterlagen, die es gab, sind spater viele vernichtet worden. Sachse hat allerdings eine geheime Statistik entdeckt, die er fur glaubwurdig halt. "Irgendjemand hat diese Daten vor dem Vernichten ausgedruckt. Wir kennen denjenigen nicht, aber er war verantwortlich genug, um zu wissen, dass da wichtige Informationen zerstort werden sollten." Aus den Unterlagen gehe hervor, dass es zwischen 1960 und 1989 in der DDR etwa 84.000 Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs gegeben habe, allein in einer Altersgruppe von Betroffenen – vom Sauglingsalter bis zu 14 Jahren. "Das ist ungefahr der Wert, den man im Westen auch finden kann, eventuell sogar noch einen Tick hoher."

Fur den Wissenschaftler hei?t das auch: "Die allermeisten Betroffenen haben bis heute keine Stimme gefunden, keine gesellschaftliche Anerkennung." Sie schlagen sich immer noch allein mit ihrer Vergangenheit herum. Womoglich mit den gleichen Gedanken, Zweifeln, Schuldgefuhlen, von den viele Betroffene an diesem Tag erzahlen. "Man braucht lange, um zu begreifen, dass einem schlimmes Unrecht passiert ist. Dass man selbst das Opfer ist", erzahlt ein Mann, der massiven Missbrauch in Kinderheimen erlebt hat.

Es wird an diesem Tag auch uber mogliche finanzielle Entschadigungen der Opfer gesprochen, uber die Einrichtung von Hilfsfonds – bisher sind das allerdings nur ferne Wunschprojekte. Momentan haben Betroffene nur eine Moglichkeit auf Entschadigung, wenn sie als Hartefalle gelten und langfristige Beeintrachtigungen nachweisen konnen. Die Hurden dafur sind hoch. Fur den Historiker Christian Sachse sind diese Faktoren momentan zweitrangig. "Erst mal mussen wir mit so vielen Betroffenen wie moglich in Kontakt kommen und mit ihnen endlich die Aufarbeitung beginnen. Dabei stehen wir noch ganz am Anfang."

 

 

 

 

 




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