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"Man Lernt Damit Umzugehen, Dass Der Staat Immer Recht Hat"

Mitteldeutsche Rundfunk
October 12, 2017

http://www.mdr.de/sachsen/leipzig/sexueller-kindesmissbrauch-in-der-ddr-100.html

"Ich bin als Saugling bis zum 18. Lebensjahr in Einrichtungen aufgewachsen, die der Umerziehung galten. Im Prinzip konnten die mit einem tun und lassen, was sie wollten." Wenn Rene Munch diesen Teil seiner Lebensgeschichte erzahlt, bekommt man als Zuhorer zwangslaufig einen Klo? im Hals. Bis zu seinem 18. Geburtstag musste er einiges uber sich ergehen lassen: Beruhrungen von Erziehern im Intimbereich und auch sexuelle Ubergriffe von alteren Heimkindern, Erziehern und dem Mann seiner Mutter.

Rene Munch war jahrelang in verschiedenen Heimen untergebracht. Sowohl dort als auch in der Familie wurde er missbraucht.

Uber seine Erlebnisse spricht Munch erst seit 2012. Als er mit der Aufarbeitung seiner Geschichte beginnt, ist er 51 Jahre alt. "Uber die Heimerziehung spricht man, aber dass dort auch sexueller Missbrauch stattgefunden hat, daruber spricht man nicht. Das liegt aber auch an uns Betroffenen. Man muss die Hemmschwelle uberschritten haben. Ich habe gesagt, damit muss man an die Offentlichkeit gehen. Denn das sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und man leidet auch das ganze Leben drunter."

"Der Staat durfte nicht beschmutzt werden"

Die Geschichte von Rene Munch ist langst kein Einzelfall - obwohl es Missbrauch in der DDR offiziell nie gegeben hat. Erst seit 2010 bekommt diese Fassade erste Risse. Mittlerweile hat eine Aufklarungskommission die Arbeit aufgenommen, um Betroffenen von sexuellem Missbrauch in der DDR Recht und Gehor zu verschaffen. Mitglied der Kommission ist auch die ehemalige Familienministerin Christine Bergmann. Nach einem Jahr Arbeit stellt sie fest: "Das Thema sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen war in der DDR weit mehr und langer tabuisiert als in den alten Bundeslandern. Egal ob in der Familie oder in Heimen. Es passte nicht in die heile sozialistische Gesellschaft. Der Staat durfte nicht beschmutzt werden."

Die Heime in der DDR unterstanden dem Ministerium fur Volksbildung. Wer also einen Angestellten oder ein ganze Heim mit Missbrauchsvorwurfen konfrontierte, legte sich auch mit dem Staat an. Vor dem zweiten offentlichen Hearing zum Thema Kindesmissbrauch in der DDR stellt Kommissionsmitglied Bergmann aber auch klar, dass es nicht darum gehe, zu bewerten, wo Missbrauch schlimmer war - in Ost oder West. In der DDR wurde nur noch starker verschwiegen, was in Heimen oder hinter geschlossenen Wohnungsturen passierte. Denn wer sich Gehor verschaffte, musste mit Repressalien rechnen.

"Ein Beispiel fur den Umgang mit bekanntgewordenen Fallen: Ein Kind wurde zuhause so schwer misshandelt, dass das auch nach DDR-Recht hatte strafrechtlich verfolgt werden mussen. Obwohl der Vater die Tat zugegeben hat, wurde dem Kind gedroht: Wenn es weiter daruber spricht, muss es ins Heim."

Beruchtigtes Torgau

Ins Heim kommen oder noch schlimmer auf einen Jugendwerkhof – das will niemand. Und doch kamen viele Kinder und Jugendliche dort unter. Dafur gab es die nichtigsten Grunde. Auch bei Corinna Thalheim, sie wurde wegen 'Schulbummelei' eingesperrt und kam spater fur gut drei Monate in den beruchtigten Jugendwerkhof Torgau. "Torgau war ein geschlossener Jugendwerkhof. Ich wusste damals nicht, warum man mich dort hingebracht hat. Das wurde mir nicht gesagt auf dem Transport."

Heute sagt sie, Torgau sei die schlimmste Zeit in ihrem Leben gewesen. Besonders verstorend waren fur sie diverse Vergewaltigungen durch den Direktor der Anstalt. Daruber gesprochen hatte auch sie jahrelang nicht - aus Angst und Scham. "Mit 18 bin ich nach Hause gekommen. Und da war ich nur 'die aus dem Knast'." Das Schweigen hat Corinna Thalheim 2010 gebrochen, als auch die Missbrauchsfalle an der Odenwaldschule bekannt wurden. Heute ist sie Mitbegrunderin einer Selbsthilfegruppe fur Betroffene des Jugendwerkhofs.

Stigmatisierung - auch heute noch

Mittlerweile haben sich nach Angaben der Kommission uber 1.000 Betroffene von Missbrauch gemeldet, um ihre Geschichte zu erzahlen und die Aufarbeitung voranzutreiben. In einigen Fallen ist das vertrauliche Gesprach mit Mitgliedern der Aufarbeitungskommission das erste Mal, dass Betroffene offen uber ihr Erlebtes sprechen.

Christine Berg ist Mitglied der Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Sie fuhrt Gesprache mit Betroffenen und bietet ein offenes Ohr.

Wer in einem Jugendwerkhof untergebracht war, redet nicht uber die Zeit, sagt Christine Bergmann: "Die Jugendlichen da wurden gebrochen. Sie mussten Schweigeerklarungen unterschreiben. Und dadurch, dass es lange kein Thema war, hat die Gesellschaft auch nicht reagiert, wie man es mochte. Die haben das schlichtweg nicht geglaubt. Die sagen: 'Wenn der im Heim war, dann wird schon was gewesen sein.' Das ist die langlaufige Meinung gewesen. Die kommt mir noch immer entgegen."

Forschung noch ganz am Anfang

Noch bis 2019 soll sich die unabhangige Kommission zur Aufklarung sexuellen Kindesmissbrauchs mit dem Thema beschaftigen. Doch die Experten stellen fest: Noch steht die Forschung hier ganz am Anfang. Die Mitglieder wollen sich nun dafur einsetzen, dass ihr Auftrag verlangert wird. Auch mehr Unterstutzung fur Betroffene - sowohl finanziell als auch psychologisch - steht auf ihrer Agenda.

Corinna Thalheim fasst zusammen: "Wichtig fur die Betroffenen ist, dass man die Gleichstellung zu allen anderen Opfern des DDR-Regimes herstellt. Mehrfachbetroffenheit muss endlich auch von der Politik anerkannt werden. Es gibt keine Moglichkeit, Hilfe und Anerkennung des Leides zu bekommen."

 

 

 

 

 




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