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Ein Tiefer Blick in Die Dunkle Vergangenheit

By Daniel Deckers
Frankfurter Allgemeine
September 25, 2018

http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/forschung-eroeffnet-einblick-in-die-dunkle-vergangenheit-der-kirche-15806649.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0

Die Ergebnisse eines Forschungsprojekts uber den Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche erschuttern selbst die erfahrensten Wissenschaftler. Die Reaktion der Kirche: Sie will sich bessern – wieder einmal.

Sie waren alle drei Messdiener. In der „MHG-Studie“, wie der Projektbericht „Sexueller Missbrauch an Minderjahrigen durch katholische Priester, Diakone und mannliche Ordensangehorige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ kurzgefasst hei?t, kommen sie vor. Nicht namentlich, denn in der Studie gibt es weder Namen noch Orte. Auch keine Tater, nicht einmal Opfer. Die Rede ist von Betroffenen, wie den drei Kindern, und Beschuldigten, wie ihrem Peiniger.

Ihm, einem katholischen Priester, hat man seine Untaten nachweisen konnen. Sie wurden sogar dokumentiert. Das war nicht immer so. Manch andere Tater tauchen in den Akten oder in Berichten von Betroffenen nur als Beschuldigte auf. Was wirklich vorgefallen ist, wird man nie erfahren. Viele sind langst verstorben, andere lassen sich nicht mehr identifizieren. Personalakten oder andere Dokumente seien in unbekannter Zahl „vernichtet oder manipuliert worden“, stellen die Wissenschaftler der Universitaten Mannheim, Heidelberg und Gie?en (daher das Akronym MHG) um den Forschungskoordinator Harald Dre?ing fest. Und wenn man ihrer doch habhaft werden konnte, dann erwiesen sie sich als „ausgesprochen heterogen und ohne einheitliche Standards“. Nicht-Wissen-Wollen als System? Dre?ing, der als forensischer Psychiater in mehr als drei?ig Jahren vieles gesehen und erlebt hat, zeigte sich am Dienstag in einer personlichen Bemerkung ob des Ausma?es von sexueller Gewalt in der katholischen Kirche in Deutschland und dem Umgang damit „erschuttert“.

40 Jahre, bis die Kirche ihn verurteilte

Nach den Ubergriffen auf die Kinder war der Geistliche in ein anderes Bistum versetzt worden – zur Therapie. Wieder wurde er ubergriffig, die staatliche Justiz machte ihm den Prozess. Noch wahrend der Bewahrungsfrist hatte er wieder Gelegenheit, sich im Schutz der Kirche an Kinder und Jugendliche heranzumachen. Es dauerte mehr als 40 Jahre nach dem ersten Ubergriff, ehe er auch kirchlicherseits verurteilt wurde. Als einer von wenigen, wie es die Wissenschaftler den Bischofen in deren Gebetbuch geschrieben haben.

Dass das durch Akten und Sekundaruberlieferungen erschlie?bare Hellfeld das mutma?liche Ausma? und die mutma?liche Intensitat sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche auch nicht annahernd exakt abbildet, ist seit Dienstag Gewissheit. So weit, so schlecht. Die andere Gewissheit: Zusammengenommen ermoglichten die verfugbaren Quellen, die in sieben Teilprojekten erforscht werden, einen „tiefen Blick in der Vergangenheit“ (Reinhard Kardinal Marx). So weit, so gut?

Versetzungen innerhalb von Diozesen, in andere Bistumer oder ins Ausland waren probate Mittel, um Beschuldigte vor Sanktionen zu schutzen. Dass das Vorleben an neuen Einsatzorten zumindest den Vorgesetzten bekanntgemacht wurde, kam selten vor. Strafanzeigen gegen Geistliche wurden wenn, dann zumeist von Betroffenen gestellt. Kaum ein Drittel der Beschuldigten sah sich mit einem kirchenrechtlichen Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs konfrontiert. Ein Viertel davon endete mit keinerlei Sanktionen. Wurden Sanktionen verhangt, erschienen sie zumeist als leicht, „mit zum Teil problematischen Folgen hinsichtlich des Ruckfallrisikos“. Kirche als Taterorganisation.

Deutsches Recht verhindert Strafverfolgung der Geistlichen

Dieses Bild zeichnen Personen, denen die Bischofe nicht nachsagen konnen, sie wollten der Kirche schaden. Die Wissenschaftler, die das Forschungsprojekt in den vergangenen dreieinhalb Jahren durchgefuhrt haben, taten dies ja gerade im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz. Dass nicht alle Bischofe mit dem Herzen dabei waren und die Kooperationsbereitschaft mitunter heftig zu wunschen ubriglie?, auch das ist der Studie zu entnehmen. Ohne Namen naturlich und ohne Orte. Der Bischof, der freiwillig und nachprufbar uber seine Amtsfuhrung Rechenschaft ablegt, ist vielleicht noch gar nicht geboren. Denn auch das hat in der Kirche System. Jeder Bischof kann in seiner Diozese in einer Weise schalten und walten, die allen Grundsatzen guter Regierungsfuhrung, ja selbst der Maxime der Herrschaft des Rechts Hohn spricht. Immerhin haben die Bischofe es jetzt nochmals schriftlich.

Mit alldem und noch vielem mehr haben die Wissenschaftler – im Auftrag der Bischofskonferenz – weltweit Einmaliges geleistet. Staatliche Kommissionen und Grand Jurys in Irland, Australien und den Vereinigten Staaten konnten sich in den vergangenen Jahren direkten Zugang zu den – gleichfalls oftmals luckenhaften – Kirchenakten verschaffen und Tater wie Opfer anhoren. Mit grauenhaften Ergebnissen. Das deutsche Recht lasst ein solches Vorgehen des Staates nicht zu. Was strafrechtlich verjahrt ist, ist der Strafverfolgung entzogen. Der Forschungsauftrag des Konsortiums unter Leitung von Dre?ing ging aber weit uber das hinaus, was in den angelsachsischen Landern geschehen ist. Quantitative und qualitative Forschungsansatze wurden kombiniert und um kriminologische, psychologische, soziologische sowie forensisch-psychiatrische Kompetenzen erweitert. Den Bischofen sei Dank.

Das Hellfeld aus Beschuldigten und Betroffenen wurde ausgeleuchtet, so gut es ging. Nun wei? man mehr denn je uber Methoden der Tatanbahnung und das Verhalten von Beschuldigten nach dem Tatgeschehen, uber psychosoziale Vorbelastungen und das Risikoverhalten von Beschuldigten, uber den Beziehungskontext von Betroffenen und deren spatere gesundheitlichen und sozialen Probleme. Und praziser denn je wurden kirchenspezifische Strukturen und Mentalitaten als Ermoglichungsfaktoren in den Blick genommen – und das bis in die Gegenwart. Nachzulesen auf mehr als 300 Seiten.

Mancherorts wurden Praventionsma?nahmen nie durchgefuhrt

Denn nun ist auch die schwache Hoffnung dahin, dass sexueller Missbrauch im Raum der Kirche wenn nicht der Vergangenheit angehort, so doch langsam, aber sicher weniger geworden ist. Die Wissenschaftler fanden „keinen belastbaren Hinweis darauf, dass es sich beim sexuellen Missbrauch Minderjahriger durch Kleriker der katholischen Kirche um eine ... mittlerweile abgeschlossene Thematik handelt. Fur den gesamten Untersuchungszeitraum von 1946 bis 2014 ist von einem Andauern des Missbrauchsgeschehens auszugehen“.

Und das allen Schuldbekenntnissen und Beteuerungen der Bischofe zum Trotz, man habe das Problem schon vor Jahren erkannt und den Kinderschutz verbessert. Erste Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche waren immerhin schon 2002 erlassen worden. Damals war die katholische Kirche die erste Institution in Deutschland, die sich derartige Regeln selbst auferlegte. Und nicht nur das: Umfangreiche Praventionsstrategien sollten die Kirchen zu einem der sichersten Orte fur Kinder und Jugendliche machen. Selbst die Priesterausbildung sollte professionalisiert und um Themen wie Personlichkeitsentwicklung, Erotik und Sexualitat erweitert werden. Sollte.

Was wirklich geschah, lasst sich dem Bericht in einer nachgerade verstorenden Klarheit entnehmen. Die Umsetzung der fur alle 27 Diozesen geltenden Rahmenordnung fur die Pravention sexuellen Missbrauchs sei „vorangeschritten, jedoch uber die Diozesen hinweg in deutlich heterogener Weise“. Will sagen: In manchen Diozesen konnen sich Eltern recht sicher sein, dass ihren Kindern von kirchlichen Funktionstragern kein Leid angetan wird, in anderen nicht. Doch in welchen ist es so, in welchen anders? Die Wissenschaftler wissen es und durfen es nicht sagen. Das Verschleiern von Verantwortlichkeiten nimmt kein Ende.

Unklarheiten uber finanzielle Entschadigung, Priesterausbildungen und Opferwahl

Die einen Bischofe so, die anderen so – und das auch im Blick auf Vorschriften, denen sie als Mitglieder der Bischofskonferenz ausdrucklich zugestimmt haben. Die Leitlinien sehen aus gutem Grund vor, dass es in jeder Diozese einen „Missbrauchsbeauftragter“ genannten Ansprechpartner fur Betroffene gibt. Der soll kein Amtstrager sein oder sonst wie in der Kirche abhangig beschaftigt. Was passiert? In einigen Diozesen wird ein Kleriker oder ein Angestellter der Kirche als Missbrauchsbeauftragter installiert. Auch die mit gro?em offentlichem Aplomb inszenierten finanziellen „Leistungen in Anerkennung des Leids, das Opfern sexuellen Missbrauchs zugefugt wurde“, erfreuten sich in den Diozesen eines eher spielerischen Umgangs. Die Anerkennungsquoten variierten – so die Analysen der MHG-Forscher – zwischen fast hundert und sieben Prozent. Aus eigenem Antrieb hat die Bischofskonferenz, die seit vier Jahren von dem Munchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx geleitet wird, niemals einen Bericht daruber vorgelegt, wie selbstherrlich ihre Mitglieder mit geltendem Kirchenrecht und verbindlichen Beschlussen umgehen. Eine Verhohnung der Opfer, eine Verhohnung der Offentlichkeit.

Bei der Priesterausbildung dasselbe: Erweiterung um sexualpadagogische Ausbildungsmodule und Unterrichtseinheiten, in denen die Thematik des sexuellen Missbrauchs behandelt wird? Manche Diozesen machten damit Ernst, einige nicht. Eine der vielen Gipfel der Unverfrorenheit: Gleich vier Bistumer lie?en die Wissenschaftler nicht einmal wissen, ob sich in dieser Hinsicht uberhaupt etwas geandert hat. Wer als engagierter Bischof – und von ihnen gibt es nicht wenige – solche Mitbruder hat, der braucht keine Feinde mehr.

Bis zu diesem Mittwoch, vielleicht aber noch bis zum Donnerstag wollen sich die Bischofe mit den Ergebnissen der Studie befassen, die umfangreichen Diskussionsansto?e und Empfehlungen eingeschlossen. Was etwa kann es damit auf sich haben, dass die meisten Betroffenen von sexueller Gewalt im Raum der Kirchen mannlich sind? Liegt es am Zolibat? An Homosexualitat? Monokausale Erklarungen gibt es nicht. Viele Jahrzehnte durften nur Jungen als Ministranten den Dienst am Altar ausuben, auch in kirchlichen Internaten und Heimen uberwogen mannliche Kinder und Jugendliche. Madchen waren schlicht nicht in „Griffnahe“.

Die Typologie eines Klerikers

Aber auch das sollte bedacht werden, ginge es nach den Wissenschaftlern: „Das komplexe Zusammenspiel von sexueller Unreife, abgewehrten und verleugneten sowie die zum Zeitpunkt der Berufswahl moglicherweise latenten homosexuellen Neigungen in einer ambivalenten, teilweise auch offen homophoben Umgebung konnte eine weitere Erklarung fur das Uberwiegen mannlicher Betroffener beim sexuellen Missbrauch durch katholische Kleriker bieten.“ Ein langer, verschachtelter Satz. Will sagen: Weder Homosexualitat noch Zolibat sind fur sich genommen Ursachen sexuellen Missbrauchs Minderjahriger. Aber sie sind Risikofaktoren – wie die Tabuisierung von Homosexualitat und eine nach au?en hin demonstrative Homophobie auch. Wie auf diese Diagnosen reagieren? Die Wissenschaft bietet bislang keine belastbaren Grundlagen fur umfassende Schlussfolgerungen und Handlungsstrategien. Was aber meinen die Autoren der Studie dann mit einer „differenzierten Betrachtung der Thematik“?

Immerhin konnen sie eine Typologie beschuldigter Kleriker vorlegen. Da ist der „fixierte Typus“, bei dem Hinweise auf eine mogliche padophile Praferenzstorung vorliegen. „Das Priesteramt in der katholischen Kirche mit seinen umfangreichen Kontaktmoglichkeiten zu Kindern und Jugendlichen durfte fur Personen dieses Typus ein hohes Anziehungspotenzial haben.“ Dann gibt es den „narzisstisch-soziopathischen Typus“. Die Machtfulle, die einem geweihten Priester qua Amt zur Verfugung stehe, biete diesem Typus viele Handlungsfelder. Dazu gehore auch der unkontrollierte Zugriff auf Minderjahrige, der im sexuellen Missbrauch kulminieren kann.

Und dann ist da drittens der „regressiv-unreife Typus“ – Geistliche mit defizitarer personlicher und sexueller Entwicklung. „Die Verpflichtung zum Zolibat konnte Angehorigen dieses Typus eine falsch verstandene Moglichkeit bieten, sich mit der eigenen sexuellen Identitatsbildung nicht hinreichend auseinandersetzen zu mussen.“ Mit fatalen Folgen. „In dieser Gruppe findet sich die Erstbeschuldigung oft erst nach langerer zeitlicher Latenz nach der Priesterweihe. Ein Grund dafur konnte sein, dass erst mit der Zeit zunehmender amtsbedingter Uberforderung, Isolation und mangelnder kirchlicher Unterstutzung hinsichtlich solcher Problemlagen die Schranke zu sexuellen Missbrauchstaten durchbrochen wird.“

Sexueller Missbrauch als Konsequenz der beruflichen Dominanz

Wer soll aus alldem lernen und was? Nicht angesprochen fuhlen kann sich in der Kirche niemand. Am wenigsten die Kleriker gleich welchen Ranges. Denn: „Sexueller Missbrauch ist vor allem auch Missbrauch von Macht.“ Das Schlusselwort hierfur hei?t Klerikalismus. Es bezeichnet ein hierarchisch-autoritares System, das seitens der Geistlichen zu einer Haltung fuhren kann, „nicht geweihte Personen in Interaktion zu dominieren, weil er qua Amt und Weihe eine ubergeordnete Position innehat“. Sexueller Missbrauch ist „nur“ ein extremer Auswuchs dieser alltagsnotorischen Dominanz.

Was aber haben Bischofe als Bischofe damit zu tun? Ein klerikal-autoritares Amtsverstandnis konne dazu fuhren, dass ein Priester, der sexuelle Gewalt ausgeubt hat, eher als Bedrohung des eigenen Systems angesehen wird und nicht als Gefahr fur Kinder und Jugendliche. „Dann kann die Vertuschung des Geschehens und die Schonung des Systems Prioritat vor der Offenlegung entsprechender Taten gewinnen.“ Doch Vertuschung ist nicht alles. Das System wehrt sich, bis heute. Warum sonst sollten die, „unglaublich engagierten“ (so der Missbrauchsbeauftragte der Bischofskonferenz, der Trierer Bischof Stephan Ackermann) Praventionsbeauftragten der katholischen Kirche die MHG-Wissenschaftler in einer anonymisierten Befragung darauf hingewiesen haben, dass der Widerstand der Kleriker gegen die Befassung mit Themen wie Vorbeugung und Kinderschutz gro?er war als in allen anderen Berufsgruppen?

Wissenschaftler prasentieren Vorschlage zur Veranderung

Die Empfehlungen, die Wissenschaftler den Bischofen mit auf den Weg geben, fullen vier engbedruckte Seiten. Sie reichen von der Etablierung weiterer Forschung uber bessere Aktenfuhrung und die Vereinheitlichung ihrer Vorgehensweisen bis zu einem Uberdenken der katholischen Sexualmoral sowie der Verantwortung der Beichtvater und einem anderen Umgang mit klerikaler Macht. Nicht fehlen durfte auch der Hinweis, dass es dringend einer von der Kirche unabhangigen und interdisziplinar besetzten Anlaufstelle fur Betroffene, die eine niedrigschwellige, gegenuber der katholischen Kirche vertrauliche und auf Wunsch anonyme Beratung ermoglicht.

Die Fulle der Vorschlage wirkt erdruckend, und doch ist manches nicht einmal implizit erwahnt, etwa die systemischen Folgen des Umstands, dass die Kirche Frauen Zugang zu den Weiheamtern versperrt. Uber Dimensionen wie diese nachzudenken war nicht die Aufgabe der Wissenschaftler. Sie haben den Bischofen mehr als genug Aufgaben in das Lastenheft geschrieben, wollen sie wirklich ein Minimum an Vertrauenswurdigkeit in die katholische Kirche wiederherstellen. An Bu?ermienen, Bekundungen von Scham und Reue sowie an wortreichen Bekundungen, die Irrwege der Vergangenheit zu verlassen, fehlte es am Dienstag in Fulda nicht. „Die Betroffenen haben Anspruch auf Gerechtigkeit“, sagte Marx. Wieder einmal.

 

 

 

 

 




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