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Dokumentiert: Der Brief des Canisius-Rektors
Documented: The Canisius Rector's Letter

By Klaus Mertes
Rector of Canisius College

Dated January 19, 2010
Published January 29, 2010

https://www.tagesspiegel.de/berlin/dokumentiert-der-brief-des-canisius-rektors/1672092.html

Liebe ehemalige Schülerinnen und Schüler,

in den vergangenen Jahren haben sich mehrere von Ihnen bei mir gemeldet, um sich mir gegenüber als Opfer von sexuellem Missbrauch durch einzelne Jesuiten am Canisius-Kolleg zu erkennen zu geben. Die Spur der Missbräuche zieht sich durch die 70er Jahre hindurch bis in die 80er Jahre hinein. Mit tiefer Erschütterung und Scham habe ich diese entsetzlichen, nicht nur vereinzelten, sondern systematischen und jahrelangen Übergriffe zur Kenntnis genommen. Es gehört auch zur Erfahrung der Opfer, dass es im Canisius-Kolleg und im Orden bei solchen, die eigentlich eine Schutzpflicht gegenüber den betroffenen Opfern gehabt hätten, ein Wegschauen gab. Allein schon deswegen gehen die Missbräuche nicht nur Täter und Opfer an, sondern das ganze Kolleg, sowohl die Schule als auch die verbandliche Jugendarbeit. Aus demselben Grund bitte ich hiermit zunächst alle betroffenen ehemaligen Canisianerinnen und Canisianer stellvertretend für das Kolleg um Entschuldigung für das, was ihnen am Kolleg angetan wurde.

In den Gesprächen mit einigen der Opfer habe ich besser verstanden, welche tiefen Wunden sexueller Missbrauch im Leben junger Menschen hinterlässt, und wie die ganze Biographie eines Menschen dadurch jahrzehntelang verdunkelt und beschädigt werden kann. Zugleich konnte ich in den Gesprächen von den Opfern hören, wie befreiend es ist, wenn man beginnt, über die Erfahrungen zu sprechen, auch dann, wenn sie zeitlich weit zurückliegen. Es gibt nämlich Wunden, welche die Zeit nicht heilt.

Seitens des Kollegs möchte ich Sie darauf hinweisen, dass der Orden 2007 eine Beauftragtenstelle eingerichtet hat, an die sich Missbrauchsopfer von Jesuiten und Angestellten von Jesuiteninstitutionen wenden können: Frau Ursula Raue, Rechtsanwältin und Mediatorin, war lange Jahre Vorsitzende der deutschen Sektion von „Innocence in Danger“, einer internationalen Organisation, die sich der Bekämpfung von Kindesmissbrauch im Internet widmet. Sie ist Ansprechpartnerin nicht nur für mögliche aktuelle Verdachtsfälle und Opfermeldungen. Sie ist ebenfalls Ansprechpartnerin für Missbrauchs-Opfer aus länger zurückliegenden Zeiten, wenn diese wieder Kontakt mit dem Orden oder mit dem Kolleg aufnehmen wollen. Sie ist berechtigt und verpflichtet, zusammen mit den Opfern an den Orden heranzutreten und zu vermitteln. Sie arbeitet mit bei der Konfrontation der Täter. Alle Informationen, die sie bekommt, werden nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Opfer an andere weitergegeben.

Ich respektiere es selbstverständlich, wenn Betroffene auf Grund ihrer Erfahrungen für sich die Entscheidung getroffen haben, mit dem Kolleg, mit dem Orden und mit der katholischen Kirche zu brechen. Andererseits möchte ich gegenüber denjenigen, die den Kontakt zum Kolleg und zum Orden suchen, das Signal nicht unterlassen, dass wir ansprechbar sind. Dabei ist Frau Raue eine Möglichkeit zur Ansprache. Sie können sich natürlich auch an jede andere Person Ihres Vertrauens wenden, die mit dem Orden und dem Kolleg zu tun hat. Innerhalb des Jesuitenordens in Deutschland hat P. Provinzial schon vor einiger Zeit darüber informiert, dass es in der Vergangenheit unzweifelhaft Fälle von Missbrauch von Jugendlichen beiderlei Geschlechts durch einzelne Jesuiten gegeben hat. Diese Information hat bei den Mitbrüdern große Betroffenheit ausgelöst.

Neben der Scham und der Erschütterung über das Ausmaß des Missbrauchs in jedem einzelnen Fall und in der – bisher sichtbaren – Anhäufung müssen wir uns seitens des Kollegs die Aufgabe stellen, wie wir es verhindern können, heute durch Wegschauen wieder mitschuldig zu werden. Wegschauen geschieht ja oft schon in dem Moment, wo man sich entscheidet, nicht wissen zu wollen, obwohl man spürt, dass man eigentlich genauer hinschauen sollte. Das ist eine Herausforderung für die persönliche Zivilcourage jedes Einzelnen wie auch für die Überprüfung der Strukturen. Denn es drängt sich zugleich auch die Frage auf, welche Strukturen an Schulen, in der verbandlichen Jugendarbeit und auch in der katholischen Kirche es begünstigen, dass Missbräuche geschehen und de facto auch gedeckt werden können. Hier stoßen wir auf Probleme wie fehlende Beschwerdestrukturen, mangelnden Vertrauensschutz, übergriffige Pädagogik, übergriffige Seelsorge, Unfähigkeit zur Selbstkritik, Tabuisierungen und Obsessionen in der kirchlichen Sexualpädagogik, unangemessenen Umgang mit Macht, Abhängigkeitsbeziehungen. An diesen Themen haben wir in den letzten Jahren sowohl im Orden als auch am Kolleg gearbeitet und werden es auch weiterhin tun. In diesem Sinne danke ich den Opfern, die durch ihren Mut zu sprechen auch dem Kolleg und dem Orden einen Dienst erweisen, indem sie diese Themen anstoßen.

Seitens des Kollegs möchte ich durch diesen Brief dazu beitragen, dass das Schweigen gebrochen wird, damit die betroffenen Einzelnen und die betroffenen Jahrgänge miteinander sprechen können. In tiefer Erschütterung und Scham wiederhole ich zugleich meine Entschuldigung gegenüber allen Opfern von Missbräuchen durch Jesuiten am Canisius-Kolleg.“




Documented: The Canisius Rector's Letter

Google translation:

Dear former students,

In the past few years, several of you have contacted me to identify yourself as a victim of sexual abuse by individual Jesuits at the Canisius College. The trace of the abuse runs through the 1970s and into the 1980s. It was with deep shock and shame that I took note of these horrific, not just isolated, but systematic and long-term attacks. It is also part of the experience of the victims that in the Canisius College and in the Order there was a turning away from those who actually had a duty to protect the victims concerned. For this reason alone, the abuses do not only affect perpetrators and victims, but the whole college, both the school and the youth work of the association. For the same reason, I hereby first of all apologize to all affected former Canisians on behalf of the college for what was done to them at the college.

In conversations with some of the victims, I better understood the deep wounds that sexual abuse leaves in young people's lives and how it can darken and damage a person's entire biography for decades. At the same time, I was able to hear from the victims in the conversations how liberating it is when you begin to talk about your experiences, even if they are far back in time. There are wounds that time does not heal.

On the part of the college, I would like to point out that in 2007 the Order set up a commissioner to which victims of abuse by Jesuits and employees of Jesuit institutions can turn: Ms. Ursula Raue, lawyer and mediator, was for many years chairwoman of the German section of “Innocence in Danger ”, an international organization dedicated to combating child abuse on the Internet. She is the contact person not only for possible current suspected cases and victim reports. She is also the contact person for victims of abuse from a long time ago if they want to contact the order or the college again. She is entitled and obliged to approach and mediate the order together with the victims. She works with the confrontation of the perpetrators. All information that she receives will only be passed on to others with the express consent of the victims.

Of course, I respect it when, on the basis of their experiences, those affected have made the decision to break with the college, with the order and with the Catholic Church. On the other hand, I do not want to omit the signal to those who seek contact with the college and the order that we can be contacted. Ms. Raue is a way of addressing her. You can of course turn to any other person you trust who has anything to do with the Order and the College. Within the Jesuit order in Germany, Father Provincial informed some time ago that there have been undoubted cases of abuse of young people of both sexes by individual Jesuits in the past. This information caused great consternation among the confreres.

In addition to the shame and shock at the extent of the abuse in each individual case and in the - so far visible - accumulation, we on the part of the college have to face the task of how we can prevent ourselves from becoming complicit again today by looking the other way. Looking away often happens at the moment when you decide not to want to know, although you feel that you should actually take a closer look. That is a challenge for the personal moral courage of each individual as well as for the review of the structures. At the same time, the question arises as to which structures in schools, in association youth work and also in the Catholic Church encourage abuses to occur and which in fact can also be covered. Here we encounter problems such as a lack of complaint structures, lack of protection of trust, overreach pedagogy, overreach pastoral care, inability to self-criticize, taboos and obsessions in church sex education, inadequate use of power, relationships of dependency. We have worked on these topics in the Order as well as at the College in recent years and will continue to do so. In this sense, I thank the victims who, with their courage to speak, also render a service to the College and the Order by initiating these issues.

On the part of the college, I would like to use this letter to help break the silence so that the affected individuals and the affected age groups can speak to one another. In deep shock and shame I repeat my apology to all victims of abuse by Jesuits at the Canisius College. "





 
 

 
 

 
 




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