Striptease-Beichten: Strafe nur im Geheimen

CRéTEIL (FRANCE)
Frankfurter Allgemeine Zeitung [Frankfurt, Germany]

October 24, 2022

By Michaela Wiegel

Angeblich musste der Bischof von Créteil aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten. Jetzt sind die wahren Gründe bekannt – die Bischöfe schwiegen.

Von einem „Schock für die Gläubigen“ spricht der Vorsitzende der französischen Bischofskonferenz, Erzbischof Éric de Moulins-Beaufort. Ein neuer Missbrauchsskandal erschüttert die französische Kirche, während Präsident Emmanuel Macron am Sonntag nach Rom aufgebrochen ist. Er wird an diesem Montag zu einer Audienz von Papst Franziskus empfangen. Doch die Frage des Umgangs mit sexuellem Missbrauch in der Kirche soll laut Élysée-Palast nicht zur Sprache kommen. Dieses Thema sei bereits beim vorangegangenen Besuch Macrons im Vatikan erörtert worden. Im November 2021 sprach Macron mit dem Papst über den kurz zuvor veröffentlichten Abschlussbericht der Unabhängigen Kommission über sexuellen Missbrauch in der Kirche (Ciase) unter Leitung des ehemaligen Verwaltungsgerichtspräsidenten Jean-Marc Sauvé. Der Bericht beschrieb das „systemische Ausmaß“ sexuellen Missbrauchs und leitete eine Debatte über notwendige Veränderungen ein, um Missstände schnell aufklären und die Opfer schützen zu können. Im November 2021 erkannte das Episkopat bei seiner jährlichen Vollversammlung in Lourdes seine „institutionelle Verantwortung“ für die Gewalttaten an und gelobte Erneuerung. Eine unabhängige Kommission zur Entschädigung der Opfer wurde eingesetzt. In der Öffentlichkeit wurde das als revolutionäre Wende der Bischöfe im Kampf gegen sexuellen Missbrauch anerkannt.

Doch jetzt hat die katholische Zeitschrift „Famille Chrétienne“ enthüllt, dass Bischöfe just im Umfeld der Veröffentlichung des Ciase-Berichts eine Art Schweigepakt geschlossen hatten. So hielten sie wie der Vatikan die wahren Gründe geheim, die den Bischof von Créteil, Michel Santier, zum Rücktritt veranlasst hatten. Offiziell hieß es, Santier habe aus gesundheitlichen Gründen um seinen Rücktritt ersucht. Er fühle sich nach einer Corona-Infektion kraftlos und habe nicht mehr die nötige Energie für die Ausübung seines Amtes.

Was die Öffentlichkeit nicht erfuhr: Tatsächlich hatte der Papst Santier im Oktober 2021 wegen „geistlichen Missbrauchs zu sexuellen Zwecken“ an zwei volljährigen Männern bestraft und zu einem „zurückgezogenen Leben im Gebet“ verpflichtet. Zwei junge Männer, darunter ein späterer Priester, waren von Santier in den 1990er-Jahren zu sogenannten Striptease-Beichten genötigt worden. Vor dem Tabernakel mussten sie sich für jede eingestandene Sünde eines Kleidungsstücks entledigen. Santier war damals Priester in Coutances in der Normandie und für die Glaubensunterweisung junger Erwachsener zuständig. Der Geistliche galt als Vorreiter einer charismatischen Erneuerung und zog junge Leute an, die auf Sinnsuche waren. Nachdem sich die beiden Männer 2019 bei den kirchlichen Behörden gemeldet hatten, stellte der damalige Erzbischof von Paris, Michel Aupetit, Bischof Santier zur Rede. Die Diözese Créteil gehört zur Metro­polie Paris. Santier war geständig. Aupetit leitete den Vorfall umgehend an Rom weiter, daraufhin wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Den ehemaligen Erzbischof von Paris stört die Enthüllung. Aupetit meldete sich auf Twitter zu Wort: „Warum wühlen so viele Personen im Müll herum? Wollen Sie sich an den schlechten Gerüchen sättigen oder ihren eigenen Abfall verbergen?“

„Die Bischöfe müssen erkennen, dass der Umgang mit dem Fall Santier eine Splitterbombe ist,“ sagte der Religionshistoriker Martin Dumont. Seiner Meinung nach „kann man der Kirche nicht wirklich vertrauen, wenn man auf diese Weise erfährt, dass heimlich ein Bischof sanktioniert und dies nicht öffentlich gemacht wurde“. „Die Institution Kirche hat aus Feigheit oder Kalkül mit Schweigen den Skandal verschlimmert“, empörte sich die Theologin Véronique Margron von der Vereinigung der französischen Ordensfrauen. „Schock und Ekel“, schrieb der Direktor der katholischen Zeitung „La Croix“, Jérôme Chapuis. „Das Schlimmste ist, dass das allmählich wiederaufgebaute Vertrauen in die Kirche nun komplett zerstört ist“, äußerte Jean-Pierre Sautreau, der einer Betroffenenorganisation angehört. Wie der Erzbischof von Rouen, Dominique Lebrun, in einer Presseerklärung mitteilte, haben sich inzwischen weitere Opfer der „Strip-Beichten“ Santiers gemeldet. „Ich möchte meine Wut über diese unsäglichen Vorgänge zum Ausdruck bringen“, so Lebrun. Er schrieb, er habe auch die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. „Es kann keine Ausnahmen für Bischöfe geben“, äußerte Lebrun. Das Kirchenrecht schreibt nicht vor, die Strafjustiz einzuschalten. Auch gibt es keine Transparenzpflicht, weder für die Untersuchung eines Falles noch für die endgültige Entscheidung.

The solidarity of the bishops went further than originally thought. On Maundy Thursday in April of this year, Santier Die Solidarität der Bischöfe ging weiter als ursprünglich angenommen. So hat Santier am Gründonnerstag im April dieses Jahres noch die Messe an der Seite seines Nachfolgers Dominique Blanchet zelebriert. Der neue Bischof von Créteil ist zugleich stellvertretender Vorsitzender der französischen Bischofskonferenz. In einem Kommuniqué hat sich Blanchet nun für diesen „Einschätzungsfehler“ entschuldigt.

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